Anhand von Beispielen für bekannte lyrische Werke lässt uns der Autor L.S. (AlexOffice) in seinem Artikel »Deutschsprachige Dichtung von den Anfängen bis heute« an seinen wissenswerten Recherchen teilhaben.
Deutschsprachige Dichtung von den Anfängen bis heute
Im April habe ich mich anlässlich des Poetry History Month mit deutschsprachiger Dichtung von den Anfängen bis heute auseinandergesetzt. Hier könnt ihr einen kurzen, quellengesättigten Blick darauf werfen und fühlt euch vielleicht dazu angeregt, den Faden weiter zu spinnen.
9. Jahrhundert
Die Beginne rhythmisierter Dichtung liegen im Dunkel oder sind verloren. Wenngleich Karl I. Heldenlieder etc. sammeln ließ, vernichteten dessen Nachfolger und Großen das uns wertvolle Quellenmaterial. So ist aus früher Zeit wenig erhalten, wie dieser Auszug des Hildebrandsliedes (9. Jahrhundert).
Althochdeutsches Original
Ik gihorta dat seggen, |
Neuhochdeutsche Übertragung
Ich hörte (glaubwürdig) berichten, Übertragung: Horst Dieter Schlosser: Althochdeutsche Literatur. Berlin 2004. |
Die Buchstabenkombinationen -iu und -ui werden hierbei wie unser -ü ausgesprochen, das -h ähnlich dem heutigen -ch, das -u in der Vokabel „suert“ als -v. Klangpoetische Gebundenheit und innere Getragenheit mögen uns hier besonders auffallen.
12. Jahrhundert
Der nachstehende Text ist drei- bis vierhundert Jahre später entstanden, um das Jahr 1190, und stellt den Anfang des Versepos „Der Arme Heinrich“ Hartmann von Aues dar. Vielleicht knobelt ihr einmal selbst, wieviel mit Intuition und Kombination verständlich werden kann.
Ein ritter sô gelêret was,
daz er an den buochen las,
swaz er dar an geschriben vant:
der was Hartman genant,
dienstman was er zOuwe.
er nam im manige schouwe
an mislîchen buochen:
dar an begunde er suochen,
ob er iht des vunde,
dâ mite er swære stunde
möhte senfter machen,
und von sô gewanten sachen,
daz gotes êren töhte
und dâ mite er sich möhte
gelieben den liuten.
nu beginnet er iu diuten
ein rede, die er geschriben vant.
16. Jahrhundert
Wiederum dreihundert Jahre später ist der Zugang eines Textverständnisses bereits sehr viel leichter gegeben, wie das Kirchenlied „Ein feste Burg“ Martin Luthers anschaulich darstellt.
Ein feste Burg ist unser Gott,
Ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
Die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind,
Mit Ernst er’s jetzt meint.
Groß Macht und viel List
Sein grausam Rüstung ist.
Auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Mit unsrer Macht ist nichts getan,
Wir sind gar bald verloren.
Es streit’t für uns der rechte Mann,
Den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
Der Herr Zebaoth,
Und ist kein ander Gott.
Das Feld muß er behalten.
18. Jahrhundert
Naturerleben, Selbstbesinnung, Innerlichkeit werden Kennzeichen vieler deutschsprachiger Gedichte. Als Beispiel soll „Der Mond ist aufgegangen“ von Matthias Claudius aus dem Jahr 1779 dienen.
Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar;
der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.
Heute
Und auch heute kann Dichtung Schleier auf das Unsagbare legen, Umgrenzungen zu bilden versuchen, sprachphilosophische und klangpoetische Muster darbringen. Hier ein Beispiel aus meiner eigenen Feder:
Aus der Engel Ordnungen (Rilke zu Eigen)
Wie sinnig ist wohl Klang im Ohr
Der uns zum Träumen brachte
Des Tages Mühen lachte
Aus Dämmerstunden leis hervor
Ein Wort voll tiefer Huld gebar
Dem wir uns binden können
In dessen Schatten frönen
Umsorgen kann, erhellend wahr
Tieflichte Schleiertiefe
Ins Tönen heben möchte
Als wenn’s aus Höhen riefe:
„Wer hörte es, mit sich versöhnt?“ (Zitat Rilkes)
Des neuen Morgens Feuchte
Der Sprache Lichtung schillernd krönt.
Ein Beitrag von L.S. (Text und Titelbild)
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