»Das Ehrenamt« – Eine nachdenkliche Erzählung von L.S. (AlexOffice) über den persönlichen Konflikt einer Frau, die eine freiwillige Arbeit in der Vermittlung von Kunst an Kinder annimmt.
»Das Ehrenamt« – Eine nachdenkliche Erzählung
Anna-Sophia musterte im Spiegel der Eingangshalle kritisch den zweifach geschlungenen Knoten des Halstuches und besah sich genau: ein Spinnennetz feiner Linien durchzog dieses einst makellose Gesicht und verstärkte sich unschön an ihrem Mund, den so viele Männer zu küssen begehrt hatten; wenngleich, gut katholisch, kaum einem halben Dutzend aufstrebender Jünglinge vor ihrer Ehe mit dem Großindustriellen Klaus Gelegenheit hierzu geboten worden war. Ein Muskel ihrer linken Wange zuckte schmerzlich; Klaus ruhte seit Dekaden in der klobigen Familiengruft, Sündenfall eines Kölner Architekten der 20er Jahre des verflossenen Jahrhunderts; und so fühlte sich auch Anna-Sophia: vergangen, hinwegdriftend, Relikt der auf immer entschwindenden Zeit und – tempora mutantur – fremd ihrer eigenen Umgebung, den allgemeinen Zuständen.
„Engagieren Sie sich im Ehrenamt. Wir brauchen gute Leute“, hatte ihr Hausarzt verständig geraten, als sie wiederholt über Antriebsmangel und Resignation klagte. Und so war es geschehen. Ihr Blick wurde undurchdringlich; einigen Kindern des Prekariats etwas über Kunst zu vermitteln, schien abwechslungsreich, ja amüsant zu werden – und falls nicht, könne sie sich, von ihren Freundinnen Aufmerksamkeit heischend, über die dümmlich-verderbte Jugend grollend, in das Lindenthaler Anwesen zurückziehen – mit Undank vergolten worden sei es ihr, Zynismus angebracht, die Ahnung vom Untergang des Abendlandes ja nun nicht von der Hand zu weisen. Anna-Sophias filigraner Körper straffte sich; diesen verzogenen Würmchen würde sie schon noch einen, wenngleich rudimentären, Kulturzugang auftun.
Als ihr Maybach kaum vierzig Minuten später in der Einfahrt des Bürgerzentrums Chorweiler parkte, hatten sich acht Kinder eingefunden, die sie mit großen Augen anstaunten. Anna-Sophia verteilte mild lächelnd Hochglanzkopien von Guardis „Punta della Dogana e Santa Maria della Salute“, wies ihre Kleinen an, das Gemälde zu betrachten und ließ sich herab, dem süßesten Lockenkopf ein wenig übers Haar zu fahren. Dann schrieb sie auf das Flipchart: Francesco Guardi, 1712 – 1793, schmunzelte versonnen in Urlaubseindrücken vertieft, unterstrich den Namen und sagte etwas Kindgerechtes zur Biographie des Künstlers.
Nun sollten die Kinder beschreiben; was würden die Unbeholfenen stammeln? Von Bötchen fahren, wie ihr eigener Sohn in diesem Alter, einstmals? Es wäre zu wünschen, dann wäre jene Zeit vielleicht, stärker erinnernd, noch einmal zu erleben. Das erste Kind hob den Arm und sagte: „Der unten rechts muss so hart arbeiten wie Papa“, und dies rote Kopftuch erinnere an Frau Yildirim, die Toiletten putzen gehe, schon ganz gebückt, von nebenan, weil sie sonst gar nichts hätte. Andere ergänzten: die Sonne scheine auf die kugelrunde Kuppel, da wohne wohl ein Reicher, man selbst sei ja im Schatten, oder es wäre eine Sternwarte, Astronom zu werden wäre toll. Anna-Sophias Kopf begann, leicht zittrig geworden, in einen Taumel zu verfallen: was waren das für lebensvoll-erfahrne Kinder, gegen die ihr eigner Bub in diesem Alter ein karikiertes Abziehbild des Wohlstands, behäbig und zufrieden, das Gebotene verkostend, blieb. Warum förderte man diese Hellgeistigkeit im Prekariat nicht? Wie anders würde unsere Welt sich gestalten, falls, ja falls, das möglich wäre: da würde sich vieles ändern, zum Besseren. Anna-Sophia stockte – auch für sie? Die feinen Nackenwirbel zitterten schlecht kontrolliert; sie zog sich in den folgenden Wochen vom Ehrenamt zurück.
Text und Titelgrafik: L.S.
Foto des Gemäldes von Sailko auf Wikimedia Commons
Auch du kannst dein Gedicht, deinen Text, deine Erfahrung oder auch deinen Podcast bei uns einreichen. Unter Kontakt findest du unsere Ansprechpartner. Schick uns dein Werk und wir veröffentlichen es.