Die Erfahrung, als psychisch beeinträchtigter Mensch zwar offiziell als „nicht anders geartet“ bezeichnet, aber durch ihr „anders denken, fühlen und handeln“ dann doch wiederum herausgestellt und im Kontakt mit anderen („normalen“) Menschen im (Arbeits-)Leben auch so behandelt zu werden, hat Cornelia Schmitz (AlexOffice) gemacht. In ihrem Artikel »Die falsche Seite des Schreibtisches – Über ein „Sie“ und ein „Wir“.« macht sie ihrer Wut und ihrem Ärger Luft.
Über Kommentare freut sie sich.
Die falsche Seite des Schreibtisches
Über ein „Sie“ und ein „Wir“.
»Psychisch kranke und behinderte Menschen mögen anders denken, fühlen, handeln – sie sind jedoch nicht anders geartet…«
Dieses Zitat, das eine scharfe Grenze zieht zwischen „uns“, den psychisch Kranken, und „denen“, den „Normalen“ also, stammt von Christof Streidl (1939-1992). Streidl war Gründungsmitglied der Bürgerhilfe Sozialpsychiatrie Frankfurt am Main e.V. und der Zeitschrift »Treffpunkte«; (Zitat veröffentlicht ebenda.)
Ich habe den Spruch ungefähr im Jahr 2012 gelesen. Zu dem Zeitpunkt arbeitete ich auf einem betriebsintegrierten Arbeitsplatz, und zwar bei einer NGO, die sich mit sozialpsychiatrischen Fragen beschäftigt. (Sozialpsychiatrie behandelt die Bedeutung von Umgebungsfaktoren für die seelische Gesundheit – z.B. soziale und kulturelle Umstände. Wenn man so will, ist die Sozialpsychiatrie eine Reformpsychiatrie.)
Als ich das Zitat las, schrieb ich entsetzt einen Leserbrief, doch mein Anliegen wurde nicht einmal im Ansatz verstanden: Mir ging es um die äußerst exkludierende Teilung in „anders“ und „nicht anders.“ Die Redaktion aber, schrieb ausführlich über den Begriff „geartet“ zurück, der im Wortlaut eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wort „entartet“ aufweist. Und „entartet“ stammt aus der Nazi-Zeit. Sie wiesen also reflexhaft jede Nähe zum Faschismus zurück. Allerdings sahen sie überhaupt nicht, was mich so gestört hatte: die Idee nämlich, „wir“ wären so komplett anders als „die“. Das Zitat stellt die Frage, ob wir quasi eine andere Spezies wären und beantwortet sie mit nein. Aber unterschiedlich, ganz ganz unterschiedlich, seien wir schon: im Denken, Fühlen und Handeln.
Und so hat man damals gedacht, das galt vor 10 Jahren als fortschrittlich, es war lieb gemeint, so wollte man „uns“ re-integrieren.
Klingt lange her, ist es aber nicht.
Denn noch heute erlebe ich, unter anderem in der WfbM, in der ich arbeite, eine deutliche Trennung von „uns“ und „denen“: eine Trennung in Klienten und Profis also.
In meiner Werkstatt, (die ich im Grunde gut finde), wird fein auf die Unterscheidung geachtet: Profis und Klienten müssen sich siezen, unter Androhung von Konsequenzen für den angestellten Mitarbeiter, der sich darüber hinwegsetzen möchte. (Dieses Gebot kommt aus einer dunklen Zeit, als behinderte oder seelisch kranke Menschen einfach respektlos geduzt wurden und ihrerseits die „Wärter“ zu siezen hatten. Die Regel des unbedingten Siezens ist also als Zeichen des Respekts uns gegenüber gut gemeint gewesen, schlägt aber nun um in eine neue Barriere – die der strikt einzuhaltenden Distanz zu den Profis.)
Liebesbeziehungen oder Freundschaften zwischen Angestellten und Beschäftigten sind ebenso strikt verboten. Es mag geduldete Ausnahmen geben, doch im Prinzip ist die Regel eisern. Es gab (oder gibt noch in manchen Bereichen?) sogar getrennte Toiletten: Für die Angestellten und die Beschäftigten.
Wir alle miteinander ziehen also nicht an einem gemeinsamen Strang – dem der Arbeit – sondern wir, die Beschäftigten, sind bereits die Arbeit der angestellten Mitarbeiter.
Auch, als ich noch bei der vorhin erwähnten NGO arbeitete, war der Unterschied deutlich spürbar: Man bot mir nur sehr spät und zögernd das Du an, ich erhielt sehr spät einen Schlüssel für die Räumlichkeiten, ich wurde bei Tagungen nach einem anfänglichen „Du“ sogar wieder gesiezt, als mein Gegenüber erfuhr, dass ich „betroffen“ war. Es gipfelte in dem Spruch einer Kollegin: Die wurde nämlich gefragt, wie viele Mitarbeiter in der Geschäftsstelle der Organisation arbeiteten. Und sie antwortete folgendes: „Wir sind hier vier. Und Cornelia“.
Kann man sich vorstellen, wie blöd ich mir in dieser Situation vorkam?
Vom weithin bekannten und geachteten, mittlerweile verstorbenen Sozialpsychiater Klaus Dörner stammt (mit anderen gemeinsam) sein sozialpsychiatrisches Hauptwerk, nämlich das Buch: „Irren ist menschlich“.
Dörner hat sich sehr für „die Betroffenen“ eingesetzt, doch auch in seinem Buch wird streng unterschieden; schon in den Kapitelunterschriften: Diese lauten etwa: „Der sich und anderen helfende Mensch“ (Sozialprofis) und dann: „Der sich und andere behindernde Mensch“ (Lernbehinderte) oder auch „Der sich und andere niederschlagende Mensch“ (Depressive). Man sieht also schön, wie der helfende Mensch „uns“ die Hand reicht – ich bin versucht zu sagen, die Hand hinunter reicht.
Denn diese Denke scheint mir von „uns“ als einem Objekt auszugehen und nicht von einem Subjekt. Wir sind das Patientengut, das Arbeitsmaterial, der Rohstoff, wir sind die Grenze zwischen Arbeit und Feierabend.
Und so fühle ich mich stets auf der falschen Seite des Schreibtisches.
Die von vielen Profis so beschworene, und von vielen Klienten erwünschte Augenhöhe – kann es sie unter diesen Umständen überhaupt geben?
All das verstärkt im Übrigen mein starkes Trauma; ich habe die Psychiatrie so oft, und immer wieder, als Allmachtsinstitution empfunden, in denen ich den Profis ausgeliefert war. Meistens waren es wohlmeinende Profis, doch das änderte gar nichts an dem Gefühl, dass Andere über mich bestimmten, und ich nicht Herrin meines eigenen Schicksals war.
Ausblick?
In den Köpfen vieler – auch in meinem eigenen Kopf – müsste die Psychiatrie, müssten die Einrichtungen für psychisch Erkrankte durchlässiger werden. Sehr viele Menschen sehen in ihrem Leben den Psychiater oder den Psychologen, es ist fast ein Drittel der Bevölkerung, die Zahl dürfte seit Corona noch deutlich gestiegen sein. Eine psychische Erkrankung ist also völlig „normal“, genau so normal wie eine entsprechende körperliche Erkrankung. Und doch empfinde ich mich als „gelabelt“, klebt mir gefühlt ein Etikett an der Stirn, fühle ich mich chronisch krank.
Es würde helfen, wenn die Leute (und ich selbst auch) diese Art von Erkrankung als etwas Vorübergehendes, und nicht als etwas Chronisches, für immer Bleibendes sehen könnten. Es würde helfen, wenn man so munter (und beiläufig) davon erzählen könnte wie von seinem Bluthochdruck. Es würde helfen, wenn im Arbeits- und im Liebesleben der Blick auf seelische Erkrankungen ein anderer wäre.
Es würde helfen, wenn eine WfbM keine Endstation wäre, wie in den meisten Fällen, sondern eine Durchgangsstation, in der man die Menschen mit ihren vorübergehenden Störungen individuell förderte und wieder für den ersten Arbeitsmarkt fit macht.
Wie seht Ihr, wie sehen Sie das? Über Kommentare zu diesem Text freue ich mich.
Ein Beitrag von Cornelia Schmitz
Foto (Ausschnitt) von Mulyadi auf Unsplash
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Danke für deinen Artikel!
Die „Wetterscheide“ von „erkrankt“ zu „gesund“ zeichnet sich leider allzu häufig unter den Voraussetzungen der Leistungs- und Erwerbsfähigkeit ab. Wenn ich manche Menschen, die als „gesund“ gelten, in der KVB sprechen höre, so ist deren abwertende, teilweise menschenverachtende und unempathische Art erschreckend und nach meiner Ansicht keineswegs als „geistig gesund“ zu kennzeichnen. Sensibilität wird oft in melancholische Phasen führen – so können „gesunde Empfindungen“ krankmachend und „kranke“ Ansichten in ähnlich gearteten Umfeldern stabilisierend wirken. Daher mein Appell: lasst uns begriffliche Mauern schleifen, das menschlich Mögliche wertschätzend betrachten, Inhumanes tadeln.
Ihr Gastkommentar im Online Magazin KLARER KURS vom 13.03.2024
Sehr geehrte Frau Schmitz,
mir hat Ihr Artikel sehr gut gefallen. Die Rede vom „psychisch kranken und behinderten Mensch“ haben Sie zurecht aufgespießt. Und die Beobachtung, dass selbst in der Fachliteratur solche Formulierungen zu finden sind, finde ich besonders interessant – und dies ausgerechnet bei Klaus Dörner, der als Psychiater versucht hat, „Augenhöhe“ zu erreichen, beispielsweise mit seiner Idee der Teilgabe (als Ergänzung zur Teilhabe).
Ich möchte einige Punkte anmerken, in der Absicht, ihre Position produktiv zu bereichern.
1. Der „behinderte Mensch“
Die Rede vom „behinderten Mensch“ kommt im Werkstatt-Alltag (nach meiner Beobachtung) nicht vor. Da geht es eher um konkrete Behinderungen oder deren berufspraktische Auswirkungen. Wenn aber über Werkstätten oder über ihre Klientel gesprochen wird, dann taucht der „behinderte Mensch“ auf. Die Reflexion über „berufliche Teilhabe“ verfällt regelmäßig in einen auffälligen Jargon: arbeitsbegleitende Maßnahmen, pädagogische Bereiche, Zielkonflikt von Arbeit und Rehabilitation, Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt usw.
Der „behinderte Mensch“ ist eine Leerformel, ein Label. Das würde ich Ihnen unterschreiben. Dieses Label sagt nichts über sich hinaus. So gibt es auch in den Werkstätten auf Seiten des Personals „behinderte Menschen“ – Menschen mit einer anerkannten „Schwerbehinderung“ – die aber nicht so gelabelt werden. Und es kommt niemand auf die Idee, Nutzer anderer Institutionen auf diese Weise zu labeln. In der Klinik beispielsweise wird der „kranke Mensch“ als „Patient“ angesprochen, also mit seiner sozialen Rolle.
Auch in den Werkstätten könnten die „Klienten“ mit ihren jeweiligen sozialen Rollen bezeichnet werden: Für mich, in der Funktion als Sozialdienst, trifft die Bezeichnung „Klient:innen“. Aus anderen Perspektiven treffen eher die Bezeichnungen „Rehabilitanden“ oder „Beschäftigte“. (Ohne den vollen Arbeitnehmerstatus scheint mir die Bezeichnung „Beschäftigte“ ehrlicher zu sein als „Mitarbeiter“.)
Eine ziemlich gute Analyse der gesellschaftlichen Labeling-Prozesse stammt von
Anne Waldschmidt, ‚Wir Normalen‘ – ‚die Behinderten‘? Erving Goffman meets Michel Foucault. In: K.-S. Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2, Frank-furt am Main: Campus Verlag 2008, S. 5799 – 5809. (Online abrufbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-153778).
Waldschmidt hat mehrere hochkarätige Texte zu dem Thema geschrieben. Ich glaube, dass der angegebene Text Ihnen gefallen würde. Die Kritik an der Rede vom „behinderten Mensch“ trifft meines Erachtens auch in Bezug auf die Werkstätten – – jedenfalls auf der Ebene der Reflexion über sozialstaatlich organisierte Hilfen.
2. Analyse sozialer Rollen
Es ist klar, dass das Personal nicht vom Personal-Sein herunterkann. Wenn sich die Trennung von Personal und Klienten nicht aufheben lässt, wäre stattdessen zu fragen, wie die sozialen Rollen gefüllt werden. Wissenschaftliche Untersuchungen gibt es dazu fast keine. Eine Ausnahme ist:
Michael Zach, Behindertwerden als Mann. Männlichkeitskonstruktionen bei geistiger Behinderung. Dissertation am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt Main, Books on Demand, Norderstedt 2015. (Leider nicht online verfügbar; aber es gibt ja auch Bibliotheken. – Allerdings ein „schwieriger“ Text.)
Zach legt eine wissenschaftliche Analyse des Arbeitsalltags in einer exemplarischen Werkstatt vor. Seine Daten erhebt er u.a. in teilnehmender Beobachtung. Er beobachtet etwas, was er als „doing disability“ (auch ein Labeling-Prozess) bezeichnet. Eine herausragende Analyse der Werkstatt-Welt für geistig behinderte Menschen, mit dem speziellen Bezug auf männliche Beschäftigte. Ich denke, dass das auf Ihrer Argumentationslinie liegt (und auf meiner).
Die sozialen „Binnenwelten“ der Werkstätten können allerdings sehr unterschiedlich sein: Neben den konventionellen Werkstätten gibt es in der Werkstätten-Landschaft viele „Leuchtturmprojekte“ mit teilautonomer Gruppenarbeit, Supported-Employment-Modellen, ausgelagerten Gruppen u.a.
3. Arbeit
Nach meiner Beobachtung ist die Arbeit das Feld, auf dem „Augenhöhe“ in den Werkstätten noch am ehesten erreicht wird. Zusammenarbeit geht nur, wenn es ein Minimum an Kollegialität gibt. Ich würde dem widersprechen, wenn Sie schreiben „die Beschäftigten, sind bereits die Arbeit der angestellten Mitarbeiter“. Ich kenne viele Kollegen, die mit Herzblut Schreiner, Gärtner, Metaller usw. sind und die stolz sind auf „ihre“ Beschäftigten. Dass es auch andere gibt, will ich nicht in Abrede stellen.
Ich denke, dass es wichtig ist, die kollegiale Qualität der Zusammenarbeit hochzuhalten. Die Tendenz des um sich greifenden Qualitätsmanagements geht nämlich in eine andere Richtung. Das Personal soll „Dienstleister“ sein. Die tatsächliche kooperative Beziehung wird gerne unterschlagen. Statt Zusammenarbeit blieben dann nur noch „Maßnahmen“. „Die Arbeit stört“, merkte einer meiner Kollegen dazu an. Und er meinte nicht die Klienten, sondern die Produktion.
Was Sie als Verlust der Selbstbestimmung in der Psychiatrie beschreiben, entspricht vielleicht der drohenden und auch schon praktizierten Entwertung oder Verleugnung der Zusammenarbeit in den Werkstätten.
4. Kontakte
Ich glaube, die Grenze zum Feierabend (die Sie ansprechen) gilt in der Regel für alle Kollegen. Ich selbst hatte und habe über die Arbeit hinaus Kontakte zu einigen „meiner“ Klienten – und zwar intensivere als zu den meisten Kollegen. Und zu einem Klienten unterhielt ich (bis zu seinem Tod) eine lose Freundschaft.
Aber grundsätzlich erscheint mir Ihre Beobachtung auch in diesem Punkt korrekt: Die Welten des Personals und der Klienten sind deutlich getrennt, und zwar in einer Weise, die nicht gerechtfertigt ist: Hierzu gehört der riesige Lohn-Unterschied.
5. Fit für den Markt
Aufmerksam machen möchte ich Sie auf eine weit verbreitete Sprachformel, die auch Sie verwenden: Sie wünschen sich eine Werkstatt, die Sie „für den ersten Arbeitsmarkt fit macht“. Mit dieser und ähnlichen Formeln wird normalerweise die Befähigung zu einer Erwerbstätigkeit bezeichnet. Wörtlich genommen ist die „Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt“ eine Nonsens-Formulierung. Warum sprich man nicht von der Befähigung zu oder der Vermittlung in Erwerbsarbeit. Ich habe den Verdacht, dass das in der Logik des Labeling liegt. Ohne Bezug auf die Erwerbsarbeit spart man sich die Vorstellung von der Zusammenarbeit mit dem „behinderten Menschen“. Über Prozesse der „beruflichen Sozialisation“ muss man in der Markt-Terminologie nicht nachdenken. Sie kommen erst nach dem Markt. Tatsächlich ist die Neu-Justierung der beruflichen Sozialisation ein wesentlicher Prozess. (Zum Beispiel müssen persönliche Belastungsfähigkeit und Belastungsgrenzen neu erfahren und an die soziale Umwelt vermittelt werden.)
Die Vermittlung auf den Markt klingt einfacher als die in Erwerbsarbeit. Und der Markt ist unser neo-liberales Heiligtum. Mir rutscht der Markt-Jargon ärgerlicherweise manchmal durch. Aber ich glaube, dass es heilsam ist, wenn man die Dinge bei ihrem Namen nennt; und das ist in diesem Fall die Vermittlung in einen Arbeitsvertrag, nicht die Vermittlung auf den Markt.
Vielen Dank für den spannenden Artikel und viel Glück für Ihren weiteren beruflichen Weg!
Lieber Werner, lieber Herr Saal,
vielen Dank für das freundliche Feedback zu meinem Text. Ich freue mich sehr, wenn ich gelesen werde und ggfs. zu Gedanken anrege. Danke auch für Ihre differenzierte Betrachtensweise, Herr Saal.
Freundliche Grüße
Cornelia Schmitz