Anlässlich des Disability Pride Month Juli hat das Social Media Team des AlexOffice eine Reihe an Beiträgen zu verschiedenen psychischen Erkrankungen zusammengestellt, in denen die Autor*innen ihre Gedanken, Informationen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Lest hier den Beitrag »Psychose«.
Disability Pride Month
»Psychose«
Wie? Vollkommen verrückt? – Nee, nur ein bisschen!
Meine Erkrankung fing eigentlich schon im Kindesalter an:
Papa und Mama begleiteten mich, als ich in der Grundschule gut und fleißig war, zu einer klinischen Untersuchung in der Psychiatrie. Richtig festgestellt wurde dort mein Krankheitsbild aber noch nicht; das kam später.
Im Gymnasium tat ich mich zunächst schwer. Meinen Eltern wurde geraten, mich auf eine niederschwelligere Schulform zu schicken; sie lehnten das ab. Ich sei nicht dumm, sondern faul, war ihre Begründung. Ich hatte derweil nur einen echten Freund. Ein Mädchen wählte mich als Vertrauensperson für einen ihrer Verehrten aus – das war etwas blöde, denn ich fand sie selbst so toll. In der siebten Klasse blieb ich sitzen, d. h. ich musste das Schuljahr wiederholen. Das machte meine gerade erst halbwegs gefundenen Freundschaften nicht mehr haltbar; war ich doch dumm?
An derselben Schule blieb ich nur bis zur Vollendung der achten Klasse. Unsere Familie war umgezogen, der Weg war weit, so entschloss ich mich, meine Schwestern nachahmend, die Schule zu wechseln. Dort erging es mir besser. Ich knüpfte Kontakte, wir gründeten eine Clique. In der neunten Stufe war ich kurz davor, wieder sitzenzubleiben, doch auf meine Bemerkung gegenüber meinem Vater, Einstein sei auch sitzengeblieben, antwortete er unmissverständlich: „Aber nicht zweimal!“
Die Nachprüfung zur Versetzung in die zehnte Stufe schaffte ich dank intensiver Unterstützung meiner Mutter sehr erfolgreich. Jetzt – hatte ich das Gefühl – akzeptierten mich Viele mehr aus der Schule. Sowohl Lehrer als auch Mitschüler erkannten meine positiven Seiten. Ja sogar eine kluge und hübsche Schülerin aus einer anderen Schule fand mich so nett, dass wir beide eine innige Liaison miteinander eingingen.
In der Oberstufe (damals 11. bis 13. Klasse) hatte ich zeitweilig bessere Noten. Das Abitur schaffte ich mit einem Durchschnitt von 2,9 (wow, eine zwei vor dem Komma!). In der Clique unternahmen wir in der näheren und weiteren Umgebung viel, und ich spürte, wie schön das Leben sein kann. Ich fing an, erst Rechtswissenschaften (Jura), dann Volkswirtschaftslehre zu studieren. Währenddessen schaffte ich es, an der Organisation des weltweit größten von Studenten aufgebauten Kongresses mitzuwirken. Wir arbeiteten Nächte durch. Es war cool.
Nach dem Kongress war vor meiner Erkrankung: Ich hatte berufliche Kontakte in höhere Führungsebenen geknüpft. Ich fühlte mich, als wäre ich ein König. Doch bekanntermaßen kommt Hochmut vor dem Fall. Also wählte ich zwei „große“ und einen „kleinen“ (Prüfungs-) Schein in einem Semester zu schreiben… und scheiterte krachend.
Nach Vorsprache beim Prüfer entlüftete er ein offenes Geheimnis, wie ich es im darauffolgenden Semester doch noch schaffen könnte – aber es war für mich gelaufen. Ich konnte mich nicht mehr richtig konzentrieren, brachte Vieles durcheinander, interpretierte aus meiner Fantasie frei heraus und fühlte mich verfolgt und missverstanden. So begann meine Psychose und nahm ihren Lauf.
Zunächst dachte ich eine Zeit lang, Personen im Fernsehen meinten mich persönlich; immerhin sprachen Sie ja (mit mir?). Dann sah ich in einer Person in der Straßenbahn eine Vertreterin des Geheimdienstes o. ä. Später gingen Mafiosi auf dem Gehweg und versuchten mich zu killen, überlegte ich mir. Worte und Zusammenhänge aus Wirtschaftsfachbüchern und Science-Fiction-Romanen gaben mir unzweifelhafte Hinweise darauf. Hm…, stimmte etwas mit mir nicht?
Mein Arzt diagnostizierte Halluzinationen – das lehnte ich ab! Ich las diese Dinge wirklich, es gab kein Vertun. Ich hatte es in meinem Kopf. Es fügte sich fast nahtlos wie in einem Puzzle zusammen und… Und was? Ich war krank. Fachleute nennen die Mitwirkung nach der Feststellung der Erkrankung „Compliance“. Die entwickelte ich spät, dann aber gut.
Mehrere Phasen mit Rumprobiererei an Medikamentengaben hatte ich bereits hinter mir, als ich spürte, dass mit mir wirklich irgendetwas nicht okay war. Zwischenzeitlich hatte ich Glück, dass die Polizei mich nicht dabei erwischte, wie ich wie ein Wahnsinniger mit 180 km/h in einem Mietwagen über eine Baustelle auf der Autobahn raste. Vielmehr hielt sie mich fest, nachdem ich in „James-Bond-Manier“ über mehrere rote Ampeln gefahren war. Okay, der Führerschein war erstmal weg. Aber ich wurde eingeliefert: in die Psychiatrie.
Mehr als drei Jahre meines Lebens verbrachte ich dort. Nein, nicht an einem Stück, sondern in vier oder fünf Abschnitten. Aber zweimal hintereinander Weihnachten feiern habe ich dann doch mitgemacht oder wohl mehr erlitten. Nicht die ganze Zeit war schlimm. Wir haben auch lecker gekocht, Fernsehen und Video („Titanic“) geschaut, ich hatte eine Freundin, die ebenfalls auf Station war. Draußen hagelte es schwer, und wir waren geschützt. Aber schön war das dennoch nicht unbedingt.
Heute blicke ich auf eine teils sehr schwere Krankheitsphase zurück. Alles in allem habe ich das aber gut überstanden. Denn jetzt bin ich verheiratet, lebe in einem gesicherten sozialen Umfeld und habe eine abwechslungsreiche Arbeitsstelle mit ein wenig Verantwortung. Doch befreit bin ich von meiner Erkrankung nicht. Sie begleitet mich weiterhin. Manchmal leide ich noch unter ihr. Grundsätzlich bin ich aber ein positiv denkender Mensch und überbrücke problematische Spann(ung)en mit freudigen Erlebnissen in meiner Freizeit, die ich viel zu wenig habe.
Durch die inzwischen sehr gut eingestellte Medikation habe ich ein nächtliches Schlafbedürfnis von zehn (10!) Stunden, das ist viel Lebenszeit. Dafür lobt mich meine Ehefrau als sehr diszipliniert, ordnungshaltend und antialkoholisch lebend, auch rauchen habe ich abgelehnt. Meine Ehefrau wiederum kocht sehr gesund, unternimmt sehr gerne etwas und nimmt sich ihrer Erkrankung sehr an.
Aber das ist ein ganz anderes Thema.
Ein Beitrag von Anonym
Titelgrafik: L.S.
Diese Beiträge der Reihe »Disability Pride Month« sind geplant oder bereits veröffentlicht:
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Disability Pride Month | »Bipolare Störung«
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Disability Pride Month | »Depression«
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Disability Pride Month | »Autismus«
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