Die Geschichte des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch (= §218 StGB), der einen Schwangerschaftsabbruch als Straftat behandelt, geht in das 19. Jahrhundert zurück. Marie-Louise Buschheuer (AlexOffice) hat ausführlich recherchiert, wie der Paragraf sich im Laufe der Zeit entwickelte und wann es welche Änderungen gab. In ihrer sachlichen Zusammenstellung gibt sie hier ohne Wertung die wissenswerten Fakten an uns weiter. Lest selbst und macht euch ein eigenes Bild.
Die Geschichte des §218 StGB
19. Jahrhundert
1871 – Mehr als 150 Jahre ist es her, dass §218 in das Strafgesetzbuch aufgenommen wurde. Dieser Paragraph besagt in seiner heutigen Form, dass ein Schwangerschaftsabbruch mit bis zu drei Jahren Haft oder einer Geldstrafe bestraft wird.
Interessanterweise beurteilte die katholische Kirche bis ins 19. Jahrhundert Abtreibungen bis zu einem gewissen Tag der Schwangerschaft als minderschwer. Hier kam es darauf an, ob der Fötus schon beseelt war – laut der Kirche geschah dies bei männlichen Föten am 40. Tag nach der Zeugung und bei Weiblichen am 80. Tag. Vorher war er “lediglich” ein Teil der mütterlichen Eingeweide.
Erst durch den medizinischen Fortschritt wurde diese These widerlegt. So galt im bayerischen Strafkodex von 1751 ein Abbruch in der ersten Schwangerschaftshälfte als straffrei.
Durch medizinische Erkenntnisse wurde das ungeborene Leben erst als Vorstufe oder Fiktion eines Menschen gewertet.
So entstand 1871 das noch heute gültige Gesetz in seiner Urform, mit dem Gedanken, dass der Staat berechtigt sei, „einen zukünftigen Bürger zu erhalten”.
Dadurch wird zum ersten Mal deutlich, dass hier eine bevölkerungspolitische Motivation zu Grunde liegt.
Obwohl 1871 die Rechtslehre der Meinung war, dass es sich bei einem Schwangerschaftsabbruch nicht um ein Tötungsdelikt handelte, wurde sie im Reichsstrafgesetzbuch in genau diesem Bereich aufgenommen.
Beginn des 20. Jahrhunderts
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts trat die Frauenbewegung auf den Plan. Gemeinsam mit einer Allianz aus medizinischen und staatlichen Instanzen begann die Debatte darüber, wann ein Schwangerschaftsabbruch straffrei sein sollte. Diese Indikatoren waren vor allem medizinisch oder sozial geprägt. Doch dann brach der erste Weltkrieg aus und verhinderte die erste mögliche Reform.
Denn Deutschland war nicht nur politisch stark eingespannt, sondern das Land brauchte aufgrund der hohen Menschenverluste durch die Kämpfe Nachwuchs. Als Arbeiter und Soldaten.
Ein nicht mehr verabschiedeter Entwurf von 1918 war lange Zeit die einzige ernsthafte Chance auf straffreien Schwangerschaftsabbruch durch medizinische Indikatoren (Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren).
Zu dieser Zeit entwickelte sich auch der Begriff “Klassenparagraph”. Denn gerade unterprivilegierte Schwangere waren auf Selbsthilfe oder Kurpfuscher angewiesen, wodurch eine strafrechtliche Verfolgung wahrscheinlicher war, als wenn man genug Geld hatte, um Ärzte und Verschwiegenheit zu erkaufen.
Weimarer Republik
In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts kam es durch die wirtschaftliche Nachkriegskrise mit Lebensmittelknappheit und Wohnungsnot zu einer stärkeren Verbreitung damals schon vorhandener Verhütungsmittel. Die konservativen Kräfte in der Regierung fanden sich damit ab.
Doch rückte dadurch der Schwangerschaftsabbruch wieder in den politischen Mittelpunkt.
Eine breite und engagierte Diskussion zur Beibehaltung oder Änderung des Gesetzes wurde durch eine Massenbewegung gegen den “Gebärzwang”, das Zustandekommen einer Sexualreform und einer radikalen Frauenbewegung gefördert. Ein breites Netz an Sexualberatungsstellen wurde aufgebaut. Hier bekamen ratsuchende Frauen nicht nur Informationen zur Empfängnisverhütung, sondern fanden auch Rat bezüglich des strengen Abtreibungsstrafrechts sowie Vermittlung an hilfswillige Ärzte.
Durch die Unterstützung der KPD im Reichstag stellte sich die SPD, eigentlich reformwillig, aus ideologischen Gründen auf die andere Seite und unterstützte die Bewegung nicht.
Durch diese uneinheitlichen politischen Verhältnisse kam es am 18. Mai 1926 zu einer minimalen Änderung im Gesetz: Lediglich eine Strafmilderung und eine Herabstufung vom Verbrechen zum Vergehen waren vorgesehen. Eine medizinische Indikation (beispielsweise Gefährdung des Lebens der Mutter) konnte nicht erreicht werden.
Im März 1927 wurde dann durch das Reichsgericht ein Urteil bestätigt, dass eine Abtreibung aus medizinischen Gründen durch die Ärzteschaft zuliess.
Dieses Urteil sollte bis in die Mitte der 1970er Jahre von Bedeutung sein.
Mit dem Auflammen der Filmindustrie in den 1920er Jahren, nahmen sich auch Filmemacher der Problematik und Dramatik des Schwangerschaftsabbruches an.
Beispielsweise kam 1926 der Stummfilm “Kreuzzug des Weibes” ins deutsche Lichtspieltheater. Dieser Film spiegelte die Abtreibungsprobleme in der Weimarer Republik wider. Das 1929 veröffentlichte Drama “Cyankali” berichtet von dem Arbeitermädchen Hete und ihrem erschütternden Abtreibungsversuch. Gerade diese Aufmerksamkeit brachte die Frauen immer wieder auf die Straße – Höhepunkt war die Berliner Ausstellung “Frauen in Not!” 1931.
Nationalsozialismus
Durch die Machtergreifung der NSDAP und Adolf Hitler im Jahr 1933 wurden viele liberale und individualistisch angelehnte Bewegungen zerschlagen. Auch die Reformierung des Abtreibungsstrafrechts lief nun in eine gänzlich andere Richtung.
Die übergeordneten Ziele der Rassen- und Bevölkerungspolitik machten aus Schutzgut des ungeborenen Lebens ein Rechtsgut für die Lebenskraft des Volkes. Wer gewerblich Abtreibungen betrieb, musste mit der Todesstrafe rechnen – niedergeschrieben in der Verordnung zum Schutz von Ehe, Familie und Mutterschaft von 1943.
In einem 1936 entwickelten nationalsozialistischen Strafgesetzbuch wurde die Abtreibung aus den Tötungsdelikten herausgnommen und dem Abschnitt “Angriffe auf Rasse und Erbgut” zugeordnet.
Einschränkungen des Abtreibungsverbotes gab es mit der Regelung einer medizinischen und eugenischen Indikation – die Umsetzung der “Auslese” und das “Ausmerzen” von “unwertem Leben” diente der NS-Rassenpolitik.
Gründung Bundesrepublik Deutschland
In der direkten Nachkriegszeit nach 1949 war Deutschland, verständlicherweise, mit anderen Dingen beschäftigt. §218 war kein Thema in der politischen und öffentlichen Diskussion.
Doch die Problematik der Nachkriegszeit, mangelnder Wohnraum, fehlende Kleidung und Nahrung, führte dazu, dass die Ärzteschaft sich den Problemen von Schwangeren annahm. So kam es vermehrt zu Schwangerschaftsabbrüchen unter der Indikation “sozial-medizinisch”. Die Ärzte übernahmen so unbewusst eine Vorreiterrolle für die in den 1970er Jahren wieder aufgenommene Diskussion.
Durch die Verbesserung der Lebensstandards nach den Nachkriegsjahren ging auch die Anzahl der “sozial-medizinisch” indizierten Schwangerschaftsabbrüche zurück. Selbst in den konservativ geprägten Zeit der 1950er und 60er Jahre wurde die liberal gehandhabte Abtreibungspolitik bei den Ärzten beibehalten.
Doch die Familienpolitik sah die Frau als Hausfrau und Mutter und angesichts des beginnenden “Kalten Krieges” galt die Familie, am besten mit mehreren Kindern, als “Kraftquelle des Staates”.
So wurde 1953 lediglich der zehn Jahre zuvor eingeführte Passus der Todesstrafe entfernt, alles weitere wurde aus der NS-Zeit übernommen.
Lediglich die medizinische Indikation, über dessen Einführung Einigkeit bestand, kam in den 1960er Jahren wieder zur Diskussion – es galt schließlich immer noch das Urteil von 1927 als Maß aller Dinge. Das Urteil von 1927 sollte gesetzlich festgeschrieben werden. Entwürfe von 1960 und 1962 nehmen diese medizinische Indikation in den Gesetzestext auf und boten einige Korrekturen in Form von Strafmilderung. Die ebenfalls diskutierte kriminologische Indikation (Schwangerschaftsabbruch nach beispielsweise einer Vergewaltigung) wurde abgelehnt – man glaubte an eine zu hohe Missbrauchsgefahr.
Verabschiedet wurden die Entwürfe jedoch trotzdem nicht und in den kommenden Jahren schlief das Thema, zumindest politisch, wieder ein. Zwar wurde 1969 der Schwangerschaftsabbruch wieder zum Vergehen herabgestuft und damit der Rechtszustand von 1926 wiederhergestellt, dennoch wurde direkt eingeräumt, dass weitere Reformen hinsichtlich der Indikatoren Regelung erforderlich seien.
Sexuelle Revolution
Ende der 1960er begann in Deutschland die Zeit der sexuellen Revolution: Das traditionelle Familienbild wurde in Frage gestellt, die propagierte “freie Liebe” kam durch den weitverbreiteten Gebrauch der “Pille” auf und der Schwangerschaftsabbruch kam als Maßnahme zur Geburtenregelung wieder in die öffentliche Diskussion.
Aus der Studentenbewegung der 1970er Jahre entstand die “neue Frauenbewegung”, die die Gesellschaft hinsichtlich ihrer emanzipatorischen Vorstellung verändern wollte.
Das Selbstbestimmungsrecht der Frau rückte in den Vordergrund und §218 wurde als Frauenspezifischer Paragraf der Unterdrückung angeprangert.
Hinzu kam ein “Abtreibungstourismus” deutscher Frauen in das benachbarte Ausland hinzu. Dieser “Tourismus” zeigte deutlich die Realitätsferne der deutschen Gesetze und der schon in den 1920er Jahren aufkommende Begriff des “Klassenparagrafen” gewann wieder an Deutlichkeit: Frauen, die sich keine Reise ins Ausland leisten konnten, griffen zur Selbsthilfe – unter oftmals erheblichen gesundheitlichen Risiken.
Durch Alice Schwarzer wurde in der Deutschen Presse eine Selbstbezichtigungskampagne initiiert, nach dem Vorbild einer französischen Veröffentlichung. Im “Stern” Magazin vom 6. Juni 1971 erklärten 374 Frauen öffentlich “Wir haben abgetrieben”. Darunter viele Prominente.
Wie ein Startschuss sorgte diese erste Ausgabe zu weiteren systematisch koordinierten öffentlichen Selbstbezichtigungen und zu Massenprotesten in vielen deutschen Städten.
Die neue Frauenbewegung forderte eine völlige Abtreibungsfreigabe und begründete diese mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau.
Die Forderungen waren extrem, der Schutz des ungeborenen Lebens wurde nachrangig eingestuft und schon wie in der Weimarer Republik, konnten diese Forderungen nur eingeschränkt ins Parlament übertragen werden.
Dennoch sahen sich die Politiker angehalten, ihre angekündigten Bemühungen bezüglich Indikation zu beschleunigen.
Bereits 1970 wurde durch 16 Strafrechtler ein “Alternativ-Entwurf” erarbeitet, der sich für eine Reform des §218 einsetzte. Der Mehrheitsvorschlag sah eine Dreimonatsfristenregelung vor, der Minderheitenvorschlag eine weite Indikationenregelung.
Der Deutsche Ärztetag 1973 beschloss, dass die bisher weite sozial-medizinische Indikationsstellung weiter fortgeführt wird, sprach sich jedoch gegen eine Fristenlösung aus. Diese sozial-medizinischen Indikationen zum Schwangerschaftsabbruch sollten Aspekte wie soziale, psychische und sonstige zusammenfassen, die im Einzelfall zu prüfen seien.
Die Diskussion in den 1970er Jahren wurde durch eine Veröffentlichung der katholischen Kirche im Jahr 1968 noch zusätzlich angestachelt: Der Papst und auch spätere Erklärungen der deutschen Bischöfe bekräftigten, dass der Staat das ungeborene Leben unter allen Umständen zu schützen hatte. Lediglich eine medizinische Indikation (Bedrohung des Lebens der Mutter) schien gerechtfertigt.
Am 18. Juni 1974 kam es schlussendlich zu einer Verabschiedung einer Strafrechtsreform, mit der eine Fristenlösung eingeführt werden sollte: Straflosigkeit innerhalb der ersten zwölf Wochen, wenn der Abbruch mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt durchgeführt wurde.
Das Bundesverfassungsgericht kippte diese Reform jedoch in einem Urteil vom 25. Februar 1975: Es erklärte die Fristenregelung für verfassungswidrig.
Artikel 2 Absatz 2 S. 1 des Grundgesetzes bezog sich, laut Urteil, auf “jeden”. Das verbürgte Recht auf Leben schließe auch noch ungeborene menschliche Wesen ein und durfte nicht für eine Frist infrage gestellt werden.
So kam es 1975 zu neuen Gesetzesentwürfen, die diesem Urteil Rechnung zogen, jedoch eine weite sozial-medizinische Indikationsstellung vorsahen – jene Regelung, die von der Ärzteschaft schon seit 1927 praktiziert wurde.
Deutsche Demokratische Republik – DDR
In der DDR sah das Mutterschutzgesetz vom 27. Februar 1950 eine enge medizinische sowie eine auf Erbkrankheiten beschränkte Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch vor.
Die Regierung setzte vor allem auf die Empfängnisverhütung durch die “Pille”.
Durch den Druck der Frauen, dass Abtreibungen freigegeben werden, änderte sich die Gesetzgebung am 9. März 1972. So hatte nach §§153 bis 155 des Strafgesetzbuchs jede Frau das Recht, bis zur zwölften Schwangerschaftswoche einen Schwangerschaftsabbruch durch einen Arzt durchführen zu lassen. Weder eine förmliche Antragstellung noch eine Offenlegung der Motive waren erforderlich.
Nach dieser Frist griff eine weit gefasste medizinische Indikation, die auch schwerwiegende Umstände umfasste.
Aktuelles, geltendes Abtreibungsstrafrecht
1990 geriet die Bundesregierung in Zugzwang: Der Beitritt der DDR forderte ein neues, gemeinsames Gesetz. In der Übergangszeit, bis 31. Dezember 1992, galt, trotz gegen das Strafrecht verstoßen, die Regelung des Beitrittsgebietes.
Am 21. August 1995 wurde die Reform im Schwangere- und Familienhilfeänderungesetz geschaffen, der einen Kompromiss beider Gesetzgeber darstellt. So wurde die Fristenlösung der DDR mit einer Beratungspflicht bis zur zwölften Schwangerschaftswoche übernommen, sowie eine erweiterte medizinische und kriminologische Indikationenlösung.
So bleibt der §218 des StGB bestehen, ein Schwangerschaftsabbruch ist aufgrund von medizinischen und kriminologischen Indikationen nichts rechtswidrig und straffrei, in der Fristenlösung ist er jedoch rechtswidrig, ist aber straffrei.
§219 – Werbeverbot
Der vollständigkeit halber ein kurzer Absatz über den folgenden Paragrafen:
219 regelt die Beratung von Schwangeren in einer Not- und Konfliktlage und soll dem Schutz des ungeborenen Lebens dienen. Damit soll die Frau ermutigt werden, die Schangerschaft fortzusetzen und sich Perspektiven zu schaffen, ein Leben mit Kind zu leben.
Bis zum 01.01.2021 gab es einen weiteren Absatz zu diesem Paragrafen. §219a verbot, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Inhalte auf eigene oder fremde Dienste zum Schwangerschaftsabbruch hinzuweisen. Ebenso durften Mittel, Gegenstände oder Verfahren nicht angeboten, angekündigt oder angepriesen werden.
Dies führte dazu, dass viele Ärzte nicht über Schwangerschaftsabbrüche informieren konnten oder öffentlich sagen konnten, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Immer wieder kam es zu Anzeigen und Verurteilung gegenüber Ärzten, die in Broschüren oder auf Internetseiten über Schwangerschaftsabbrüche aufklärten.
Im November 2017 kam es zu medienwirksamen Verurteilungen zweier Ärzte, die auf ihren Webseiten angegeben hatten, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen.
Auch ist bis heute der Schwangerschaftsabbruch kein Teil der regulären Ausbildung von Ärzten, die Zahl der Gynäkologen, die einen Schwangerschaftsabbruch durchführen, nimmt kontinuierlich ab.
Marie-Louise Buschheuer
Quellen:
• Bundeszentrale für politische Bildung: „Kurze Geschichte des Paragrafen 218 Strafgesetzbuch“
• LeMO Lebendiges Leben Online: Weimarer Republik | Alltagsleben | „Der Abtreibungsparagraph 218“
• marx21.de: Geschichte | Widerstand | Schwangerschaftsabbruch | „Nieder mit dem Pargrafen 218!“
• Museum für Verhütung und Schwangerschaftsabbruch (MUVS): „Abbruch“
• profamilia.de
Bild von benjaminkerber auf Pixabay
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