Anlässlich des Disability Pride Month Juli hat das Social Media Team des AlexOffice eine Reihe an Beiträgen zu verschiedenen psychischen Erkrankungen zusammengestellt, in denen die Autor*innen ihre Gedanken, Informationen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Lest hier den Beitrag »Borderline«


 

Disability Pride Month

 


 

»Borderline«

Mein innerer Bordi braucht Freigang

Mein Alltag besteht größtenteils darin, immer darauf zu achten, wie ich reagiere, meine Emotionen zu erkennen und die Anspannung in einem Rahmen zu halten, mit dem ich gut leben kann.

Tja, und dann gibt es Momente, da braucht mein innerer Bordi einfach mal Freigang. Da kann ich die Anspannung nicht mehr aushalten, da kann ich meine Emotionen nicht kontrollieren und will es auch einfach mal nicht.

Übrigens: ich bin nicht so niedlich wie der Vogel, wenn mein Bordi Freigang hat!

Das ständige Kontrollieren ist ressourcenfressend und dadurch erschöpfend. Diese Erschöpfung ist ein ständiger Begleiter und irgendwann sind halt eben die Ressourcen aufgebraucht, das Kontrollieren wird fast unmöglich und ab irgendeinem Punkt kann ich es nicht mehr.

Dann bekommt mein innerer Bordi Freigang.

Was sich erstmal lustig anhört, kann für mein Umfeld von unangenehm bis hin zu beängstigend sein. Aber für mich bedeutet es, die Kontrolle einfach mal sein zu lassen, durchzuatmen und das am Besten in einem Rahmen, wo keiner Anstoß an meinem Verhalten nehmen kann.

Der Raum für den Freigang

Der Rahmen oder der Raum, in welchem ich meinem Bordi Freigang gewähre, ist immer der Selbe: mein Zuhause. Über die Jahre habe ich mein Zuhause zu meinem persönlichen Schutzraum entwickelt. Hier passiert mir nichts, hier tut mir keiner weh, hier kann ich zur Ruhe kommen und auch mal ein unkontrolliertes Ich sein.

Verstärkt wird das durch meinen Mann, der über die Jahre gelernt hat, dass ich es oftmals gar nicht so meine, dass es mir leid tut, wenn ich beleidigend werde und der dann einfach den Raum verlässt und mich machen lässt. Inklusive dem Auffangen danach, wenn ich es brauche. Hut ab und danke an meinen Mann an dieser Stelle.

Mein innerer Bordi hat also ein Zuhause, in dem ihm, egal was er tut, nichts Negatives passieren kann. Er hat mit keinerlei Bestrafung oder Ähnlichem zu rechnen. Dadurch sind die Freigänge für ihn, oder vielmehr für mich, auch nicht mehr belastend. Ich kann sie zulassen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Das macht mich im Ganzen ausgeglichener, ich kann den Alltag meines Lebens besser bewältigen und auch mehr die Person sein, die ich sein möchte.

Kontrollierter Freigang – nein, eher nicht

Das hört sich jetzt erstmal so an, als würde ich Zeiten „einplanen“, in denen ich mich wie ein Bordi verhalte, alle Verhaltensregeln über Bord werfe und zum Arschloch – Verzeihung – mutiere.

Dem ist allerdings nicht so.

Es ist weder kontrolliert noch kann ich sagen, dann und dann wird das passieren. Es passiert einfach. Aber ich kann es kommunizieren. Ich kann mich auch zurückhalten, aber irgendwann geht das halt nicht mehr. Und dann warte ich sehnsüchtig darauf, zu Hause zu sein und alle Anspannung abfallen lassen zu können.

Aber, und ich glaube deswegen funktioniert es so gut, wenn es denn kommt, kann ich es annehmen. Radikale Akzeptanz nennt sich das in der Therapie. Ich akzeptiere einfach, dass ich mich nicht kontrollieren kann, dass ich mich nicht regulieren kann und dass diese Art und Weise auch ein Teil von mir sind.

Was passiert im Freigang?

Eigentlich nicht wirklich viel. Ich bin grantig wie ein Bär nach dem Winterschlaf, bin böse, schaue drein wie ein gereizter Boxer und reagiere gehässig und beleidigend.

Meine Anspannung, die dann extrem hoch liegt, ist für andere dann körperlich spürbar und ich fauche jeden an, der es wagt mich anzusprechen.

Ich bin aggressiv, ohne jemanden anzugreifen. Dennoch kann es jeder, der zu diesem Zeitpunkt in meiner Nähe ist, es spüren, sehen und bekommt es verbal auch gerne ab.

Da der Freigang zu Hause passiert, ist es meistens mein Mann, der das mit- und dann auch abbekommt. Das Schöne aber ist: Er weiß Bescheid. Ich sage ihm, mir geht es nicht gut, er solle mich in Ruhe lassen.

Über die Jahre hat sich das entwickelt, das war nicht von Anfang an so. Erklärungen waren nötig, Gespräche, Entschuldigungen.

Aber irgendwann war es dann soweit, mein Mann zog sich dann einfach zurück. Er sprach nicht mit mir, er verlangte nichts von mir und ich konnte in diesen Momenten aufatmen. Mein Mann gab mir den Raum, es rauszulassen.

Und oft genug passiert es in der Zeit, in der ich schon zu Hause bin, aber er ist noch auf der Arbeit. Oft gerate ich in so eine Ruhe nach diesen Momenten, dass ich die Krise bekomme, wenn er dann in die Wohnung kommt.

Die Ruhe ist dahin. Dann muss ich mich wieder sammeln.

Fazit

Dem Bordi auch mal Freigang zu gewähren, einfach mal die Anspannung rauszulassen, die Aggressionen abzulassen und ein Arschloch oder Biest zu sein, tut mir gut. Es reguliert meine Anspannung auf natürliche Weise.

Wie reguliert ihr eure Anspannung?

Ein Beitrag von Marie-Louise Buschheuer
@Sternenruferin

Titelgrafik: L.S.


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