Wieder widmet sich unser Kollege J. T. aus dem AlexOffice einem Klassiker der Schauerliteratur. In seinem Artikel »Frankenstein / Der moderne Prometheus« vermittelt er uns vielfältiges Hintergrundwissen und blickt in die Psyche dieser „unglückseligen Kreatur“. Darüber hinaus stellt er uns eine Reihe von Verfilmungen vor.
»Frankenstein / Der moderne Prometheus«
Frankenstein – ewig mahnender Mythos
Mary Wollstonecraft Shelleys (1797 – 1851) Klassiker zu der unglückseligen Kreatur des wahnsinnigen Wissenschaftlers Viktor Frankenstein ist uns heute vor allem aus den zahlreichen Verfilmungen (insbesondere durch die einprägsame Darstellung durch Boris Karloff als Frankensteins Monster) bekannt.
Im Grunde vielmehr ein Drama oder psychologischer Roman als Gruselgeschichte, schrieb Shelley diesen visionären Roman zu Beginn des 19. Jahrhunderts – der Roman wurde im Januar 1818 zunächst anonym veröffentlicht – in vierundzwanzig Kapiteln. Das Buch ist ein Mix aus Briefroman und Bericht (nicht direkt vergleichbar mit Bram Stokers Briefroman „Dracula“). Der Zeitraum des Entstehens fiel in die Epoche der ersten maschinellen Revolution und ihrer drastischen Auswirkungen auf die Lebenswirklichkeit aller westlichen Gesellschaften. Shelley, als hochsensible und gewiss ebenso scharfsinnige Zeitzeugin, nahm diese gewaltigen Veränderungen in ihr literarisches Schaffen auf und übertrug ihre mit den beginnenden Umbrüchen ihrer Tage verbundenen Bedenken und Vorahnung in diese herausragende, wegbereitende Geschichte – denn es folgten ihr unzählige Nachahmer und Weiterentwickler in nahezu allen Genres. Hauptsächlich den literarischen: in der Schauerliteratur und ganz besonders in der Science Fiction – von den (dystopischen) Science-Fiction-Erzählungen von H. G. Wells über Stanislaw Lem bis Philip K. Dick, William Gibson oder Neal Stephenson…
Mehr als nur eine schaurige Vision?
Was zu jener Zeit eine bloß bizarre Horrorvorstellung gewesen sein durfte, wagen gegenwärtig nur wenige, die sich wachen Auges durch diese Zeit der rasanten Fortschritte und Umbrüche bewegen (bspw. Kybernetik – „Kybernetiker nehmen an, dass organische und technische Strukturen nach den gleichen Prinzipien aufgebaut sind und den gleichen Gesetzen unterliegen – Gesetzen, die oft erst auf dem Wege über die technische Erkenntnis freigelegt werden“; später auch Robotik und Genforschung:), zu belächeln.
Ein neuer Mensch, aus Gliedmaßen Verstorbener zusammengeklaubt und zum Leben erweckt, welcher dann ein eigenes Gefühlsleben, ein eigenes Bewusstsein und einen eigenen Lebenswillen entwickelt – bringt uns das nicht zum Thema „Künstliche Intelligenz“ und deren Einzug in – und evtl. gar Macht über – unser Leben…(?)
Wie weit darf der Mensch gehen, weil er sich als einzige Spezies nicht mit der eigenen Existenz begnügen kann? Denn wie spricht der Schöpfer in Shelleys Werk so bezeichnend: „Lernen Sie von mir – wenn schon nicht durch meine Mahnungen, dann doch wenigstens durch mein Beispiel, wie gefährlich es sein kann, Wissen zu erlangen, und wie viel glücklicher ein Mensch ist, der seine Heimatstadt für die Welt hält, als jemand, der über seine von der Natur gesetzten Grenzen hinaus nach Höherem sucht…“;
Wir finden in dieser Aussage nicht weniger als den Widerstreit zwischen der Verzweiflung um die eigene Begrenztheit (sowie Vergänglichkeit) und den Wahn und die Hybris, sich über die natürlichen Grenzen hinauszuwagen und Gott zu „spielen“.
Wie weit dürfen wir gehen oder dürfen wir, was wir können???
Der Roman beginnt mit Auszügen aus Tagebuchaufzeichnungen und Briefen des fiktiven Polarforschers Robert Walton. Dieser wird vom schiffsbrüchigen Wissenschaftler Frankenstein eindringlich vor tollkühnen Grenzüberschreitungen in Wissenschaft und Forschung gewarnt. Der Roman endet mit dem Bild des zusammengebrochenen Frankenstein in den Armen des Polarforschers und jenem der tragischen Kreatur, welche einsam auf einer Eisscholle in die ungewisse Ferne treibt.
Im Vorwort zu ihrem „Frankenstein“ schrieb Shelley: „Die Begebenheit, dem das Augenmerk dieser Geschichte gilt, ist frei von den Ungereimtheiten reiner Gespenster- und Spukgeschichten. Ich habe sie wegen der Neuartigkeit der Situationen ausgesucht, die sich aus ihr ergeben; und wie unglaubwürdig sie als physikalische Tatsache auch sein mag, so eröffnet sie doch unserer Phantasie eine geeignetere und eindrucksvollere Bühne für ein Schauspiel menschlicher Leidenschaften, als es der Fall sein könnte, wenn man von einer persönlichen Begebenheit ausgehen könnte…“;
Wenn man ihre Bekanntschaften und für die damalige Zeit abnormen Begebenheiten mit Lord Byron und ihrem späteren Gatten in der Villa Diodati am Genfer See (sehr unterhaltsam unter dem Titel „Gothic“von Ken Russell verfilmt) bedenkt und sich die psychologische Tiefe ihrer Prosa zu Gemüte führt, zeugen diese klaren, nüchternen Worte definitiv von Shelleys hohem, klarem Verstand.
Frankensteins Kreatur – das ungewollte Leben
Der seiner Natur entfremdete Wissenschaftler hatte wohl nicht einkalkuliert, dass sein Geschöpf menschliche Gefühlsregungen, ein zutiefst menschliches Verlangen nach Gesellschaft gar, entwickeln würde. Verzweifelt versucht Frankenstein seinem Un-Wesen eine Gespielin zu erschaffen, womöglich in der Hoffnung, ihm damit endgültig Linderung zu ermöglichen.
Wir begegnen der tragischen Kreatur zu Beginn des „vierten Briefes“ (vor dem ersten der vierundzwanzig Kapitel): „Plötzlich zog ein seltsamer Anblick unsere Aufmerksamkeit auf sich und lenkte unsere Besorgnis über unsere eigene Lage ab. Wir erblickten etwa in einer halben Meile Entfernung einen Schlitten von niedrigem Aufbau, der von Hunden gezogen wurde auf geschwinder Fahrt Richtung Norden. Auf dem Schlitten hockte eine Gestalt, die menschliche Formen aufwies, aber anscheinend von riesenhafter Statur war, und lenkte die Hunde. Wir beobachteten das rasche Vorwärtskommen des Reisenden mittels unserer Fernrohre, bis er sich an den Klippen des Eises verlor.“ Wenig später nimmt die Schiffsbesatzung den ausgemergelten Viktor Frankenstein auf.
Im zehnten Kapitel kommt es zu einer erneuten Konfrontation zwischen Viktor und seinem tragischen Geschöpf. Zwar versucht er das Monster abzuwimmeln, doch besteht das an seiner Einsamkeit leidende Ungetüm auf dessen Gesellschaft und fordert Viktor auf, ihn in seine Hütte in einer Eishöhle zu begleiten. Dort berichtet die unglückselige Kreatur seinem Schöpfer von seinen Begegnungen mit den Menschen und ihrer offenkundigen Abneigung, zeigt jedoch auch empathische Regungen in Reaktion auf menschliche Gefühlszustände, dann auch Fürsorglichkeit und Lernfähigkeit (es erlernt die Sprache der Leute, die es in Obhut nahm, erinnert deren Namen und lernt sogar zu lesen).
Hier sehen wir einen eklatanten Unterschied zwischen dem Roman und den meisten Verfilmungen, in denen Frankensteins Kreatur nur als tumbes, furchteinflößendes, blutrünstiges Monstrum daherkommt und bestenfalls noch als trauriges, an seinem traurigen Schicksal leidendes Wesen, dessen Dasein als widernatürlich wahrgenommen werden soll. Herausragend und besonders wertvoll erscheint da die Darstellung Robert De Niros als Frankensteins „Monster“ aus der Verfilmung von 1994, der hier den Schwerpunkt auf die Tragik der Figur setzt und weniger auf Schockeffekte und maskenbildnerische Finessen.
Es wird mehr und mehr deutlich bzw. die Gewissheit des Lesers / der Leserin, dass es zu keiner befriedigenden Erlösung dieser (nicht gottgewollten) Existenz kommen werde. Denn obwohl es passiv Anteil nimmt am Leben der Menschen und sogar beginnt, sich selbstreflektiv zu betrachten, erkennt es seine optische Abscheulichkeit, und obwohl er alles in seiner Macht stehende unternimmt, um Freundschaft zu schließen, widerfährt ihm durchweg Abwehr und Gräuel.
Erst durch Zurückweisung wird die Kreatur zum zerstörungswütigen Unhold!
Der schier unlösbare Konflikt trägt den Spannungsbogen in der Schauer- und Horrorliteratur – gäbe es gleich ein aufrichtiges Inklusionsangebot und würde ein solches erfolgversprechend angenommen, stünde Frankensteins Monster heute wohl auf einer Ebene mit ET und ALF. Shelleys schauriges Drama ist aber ein Zeugnis seiner Zeit. Zum Bereich „Inklusion“ und „Willkommenskultur“ gab es in den Tagen der eisernen-Monarchien wenig weitsichtige Beiträge. Die scheiternden Versuche gesellschaftliche Akzeptanz zu finden, vergrößern die Verzweiflung der Kreatur Frankensteins. Die Gewalt entsteht hier erst in Reaktion auf Intoleranz und Ausgrenzung.
Gleich nach seiner Erstehung ergreift Frankenstein, der Schöpfer, die Flucht vor seinem „Werk“, und statt menschlicher Konnotationen werden dem Wesen Adjektive wie „missgestaltet“, „dämonisch“ oder „monströs“ zugeschrieben…
Zur Person Mary W. Shelley (geb. Godwin)
Erst kurz vor ihrem Tod schrieb die Autorin zur dritten Werksausgabe eine Einleitung und erst die zweite Ausgabe erschien unter ihrem Klarnamen, da es sich zu ihrer Zeit für eine Dame nicht schickte, derlei (und schon gar nicht mehr oder minder latent gesellschaftskritische) Phantasmen zu publizieren.
Shelley schrieb zudem Kurzgeschichten, welche das Ungleichverhältnis der Geschlechterrollen in der britischen Gesellschaft zu jener Zeit behandelten, außerdem bediente sie mehrere Genres und beherrschte allerlei literarische Stilmittel und war vielseitig belesen.
Die Beziehung zu ihrem früh verstorbenen Gatten Percy Shelley durfte sie als bereichernd empfunden haben, zumal er sie in ihrem schriftstellerischen Drang bestärkte. Er selbst war ein produktiver Autor von lyrischen, essayistischen und dramatischen Texten.
Ihre komplexe Innenwelt lernte Mary Shelley mit zahlreichen sie nicht zufrieden stellenden Versuchen in unterhaltsam zu lesende Formen zu übersetzen.
Als ziemlich sichere Inspirationsquelle zu ihrem Meilenstein „Frankenstein“ darf die Zusammenkunft mit den Dichtern Lord Byron und Dr. Polidori im Jahr 1816 in besagter Villa in Sécheron bei Genf genannt werden.
Auf die Ferien in der Schweiz ereilten Mary und ihren Gatten je eine schockierende Nachricht. Marys Schwester war verstorben, Percys erste Gemahlin ebenfalls – beide durch Suizid. Percy kam wenig später bei einer Segeltour im Sturm ums Leben.
Frankenstein – Die Verfilmungen (eine Auswahl)
Wir beschränken uns auf die (einigermaßen) seriösen Verfilmungen der Romanvorlage und lassen Filme wie „Frankenstein und das Monster aus dem All“ oder „Dracula jagt Frankenstein“ guten Gewissens außer Acht.
„Frankenstein“ (1931)
Unter der Regie von James Whale („Der Unsichtbare“, „Der Mann mit der eisernen Maske“, „Die grüne Hölle“) kam die erste Hollywood-Verfilmung mit Boris Karloff in der Rolle von Frankensteins Ungeheuer in die Kinos. Filmästhetisch als Meisterwerk in die Annalen gegangen, doch überliefert der Film wenig von der Tiefe des Romans.
„Frankensteins Fluch“ (1957)
Terence Fisher brachte Frankensteins Monster, von Christopher Lee verkörpert, in die Kino-Welt. Statt auf seine Kreatur legte Fisher den Fokus auf den Schöpfer und erzielte einen großen finanziellen Erfolg, wohl nicht zuletzt der Star-Besetzung geschuldet. Peter Cushing spielte Viktor Frankenstein. Cushing und Lee wurden durch den im Folgejahr verfilmten Dracula-Stoff als erfolgsversprechendes Duo der Filmwelt ein Begriff.
„Ich bin Frankenstein“ oder „Frankensteins Rache“ (1958)
Wieder saß Terence Fisher im Regiestuhl und wieder war Peter Cushing in der Rolle des Wissenschaftlers zu sehen, doch in der Rolle der Kreatur glänzte dieses Mal Michael Gwynne („The Terminal Man“, „Knowing“). Einerseits wurde der Film hochgelobt für die dramaturgische Umsetzung und die hochkarätige Besetzung, andererseits von Kritikern abgestraft als billige Schaubude. Die erste Hammer-Produktion in Farbe.
Mary Shelley’s „Frankenstein“ (1994)
Eine erstklassige Verfilmung von und mit Kenneth Branagh (in der Rolle des Viktor Frankenstein: Robert De Niro), die sich weit absetzt von der optischen Prägung der Figur von Frankensteins Kreatur und ihr weit mehr menschliche und tragische Züge verleiht. De Niro spielt es, das vermeintliche Monster – brilliant. Der Horroraspekt weicht der Nachzeichnung der Leidensgeschichte der Kreatur…;
„I, Frankenstein“ (2014)
Die jüngste – wenn auch nicht wenig haarsträubende – Adaption des Stoffes im Fantasy-Gewand. Mit Aaron Eckhart (dem breiteren Publikum wohl eher aus Filmen wie „Black Dahlia“, „Olympus Has Fallen“ oder als Two-Face in „Dark Knight“ bekannt). In der Hauptrolle des Monsters. Einerseits als originelle Neuinterpretation gewürdigt, andererseits als effekthaschende Verunglimpfung der literarischen Vorlage verschrien (zumal sich das sehr menschlich daherkommende Monster im Kampf gegen Gargoyles und anderlei Ungetümen befindet), mag diese Neuauflage (bestenfalls) frischen Wind in die staubigen Ruinen des Frankenstein-Mythos bringen.
Und nun viel Vergnügen beim Schmökern und Schauen!
Die bevorstehende Herbst-/Winterzeit lädt doch zur (Wieder-)Begegnung mit Klassikern der Schauerliteratur ein…
Ein Beitrag von J. T. ;*
Weiterführende Links:
– zum Roman „Frankenstein“ auf Wikipedia
– zu Prometheus auf Wikipedia
Grafik „Frankenstein“ (im Text) von Tim-André Elstner
Titelbild (Ausschnitt) von freestocks on Unsplash
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