Das Gemälde »Madonna mit dem Schleier« – oder auch „Madonna von Loreto“ von Raffael, einem italienischen Maler und Architekten, der als einer der bedeutendsten Künstler der italienischen Hochrenaissance gilt, hat Christoph Kühn (AlexOffice) zu seinem weihnachtlichen Betrag inspiriert. Er hat es sich eingehend angeschaut und stellt es uns hier mit wissenswerten Fakten und persönlichen Kommentaren vor.
»Madonna mit dem Schleier« (Madonna von Loreto)
Ein Gemälde von Raffael
Die „Madonna del Velo“ (Madonna mit dem Schleier) im Schloss von Chantilly wurde um 1511 von Raffael gemalt. Das Bild hing einst in der römischen Kirche Santa Maria del Popolo, später gelangte es in die Sammlung Borghese. Der Name „Madonna von Loreto“ kommt daher, dass sich eine Kopie in der Basilica della Santa Casa in Loreto befindet. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten hielt man das Bild in Loreto für das echte Werk Raffaels und die Fassung in Chantilly für eine Kopie. Erst seit 1979 ist bekannt, dass das Original in Chantilly hängt.
Mit klar umrissenen Konturen hat Raffael die Heilige Familie – Maria, Josef und Jesus – vor einen dunklen Hintergrund gestellt. Raffael knüpft an das Thema des erwachenden Jesuskindes an, das mit dem Schleier seiner Mutter spielt. Aber er interpretiert dieses Thema anders: Seine Madonna hat den Schleier abgenommen und legt ihn auf das Kind.
In einem Handbuch zur palliativen Pflege las ich vor einiger Zeit, dass es sich um eine Technik der „basalen Stimulation“ handelt. Allerdings wurde im Handbuch davon abgeraten: Denn die Praxis, ein Tuch auf einen bewusstseinseingeschränkten Menschen fallen zu lassen, sei zu huschend und zu unspezifisch, um als angenehm empfunden zu werden. Angenehm seien eindeutige und klare Bewegungen. Unklare, flüchtige Berührungen wie ein fallendes Tuch lösen dagegen taktile Abwehrreaktionen aus.
Raffael muss beobachtet haben, wie Kleinkinder in bestimmten Situationen reagieren. Das Jesuskind ist keineswegs erfreut über den Schleier. Es spielt nicht mit ihm, sondern versucht, ihn abzuwehren. Der Schleier ist ihm unangenehm.
Raffael hat das nicht ohne Grund gemalt. Dem Künstlerbiographen Giorgio Vasari, der im selben Jahr geboren wurde, in dem dieses Gemälde entstanden ist, war bei einer Betrachtung des Bildes aufgefallen, dass das Antlitz der Gottesmutter „außer höchster Schönheit auch ihre Freude und ihr Leid verrät.“
Wieso aber auch ihr Leid, ist denn nicht Weihnachten ein Fest der reinen Freude? Nein, das ist es nie gewesen, denn ohne Karfreitag hätte Weihnachten keinen Sinn. Die christliche Kunst war immer bemüht, in die Weihnachtsdarstellungen eine Andeutung des Karfreitags hineinzunehmen. So ist der Schleier, der über das Kind gelegt wird, ein Symbol für das Leichentuch, mit dem Jesus nach seiner Abnahme vom Kreuz verhüllt wurde. Das Kind spürt es, daher seine taktile Abwehrreaktion. Auch seine Mutter spürt es, daher mischt sich in ihren Gesichtsausdruck neben der Freude über die Geburt eine leidvolle Vorahnung. Den Schleier muss sie auf das Kind legen; sie kann nicht anders, wenn sie ihr Kind auf das Kommende vorbereiten will.
„In dem Leben, das auf diese Kindheit folgt, wird klar, wer Gott ist“, hat der evangelische Theologe Jörg Zink geschrieben. Er bezog sich auf solche vorausahnenden Darstellungen von Weihnachten: „Die Szenen im Haus der Maria von Nazareth, im Stall zu Bethlehem und im Tempel zu Jerusalem sind nur Vorspiele zu der Geschichte, in der wir selbst diese Liebe und dieses Erbarmen erfahren sollen.“
Ein Beitrag von Christoph Kühn
Bilder:
• „Madonna von Loreto“ (Madonna mit dem Schleier) von Raffael (1483-1520), Rom, um 1511, Öl auf Holztafel, 120 x 90 cm, Chantilly (Frankreich), Musée Condé – Google Arts & Culture, Public Domain
• Titelbild: Ausschnitt des o. g. Gemäldes
• „Madonna von Loreto“ (Madonna mit dem Schleier) von Raffael (Abbildung des Gemäldes mit Rahmen) im Musée Condé, Château de Chantilly, Frankreich – Google Arts & Culture, Château de Chantilly
Weiterführende Links:
• Madonna of Loreto – Wikipedia (engl.)
• Raffael – Wikipedia
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Durch eines Menschen will’ge Hand entbirgt sich der so tief Verborg’ne. Danke für diesen schönen Beitrag!