Als Mensch mit einer bipolaren Erkrankung blickt Cornelia Schmitz (AlexOffice) in ihrem Beitrag »Mein schaurig-schönes bipolares Leben« autobiographisch zurück auf ihre inhaltsreiche Vergangenheit und zieht ihre persönliche Bilanz. 


 

Dies ist ein Erfahrungsbericht, kein literarischer Text. Eigentlich habe ich ihn nur für mich selbst geschrieben, aber vielleicht ist er für jemand anderen doch von Interesse.

Mein schaurig-schönes bipolares Leben

Machen wir uns nichts vor: Eine bipolare Erkrankung, begleitet von Angst und entsprechend Abhängigkeit von Tranquilizern, das ist ein richtig schweres Schicksal. Dennoch trägt der Text das Adjektiv „schön“ im Titel.

Warum?

In depressiven Grübeleien sieht man alles viel schwärzer, als es in Wirklichkeit ist. Zumal sich die Weltlage momentan nicht besonders rosig anfühlt. Dennoch, wie alles, so hat auch die Depression, hat die Krankheit nicht nur Nachteile, sondern auch Vorteile. Einer der Vorteile besteht darin, dass man sich sehr genau kennenlernt, mit all seinen Fehlern, mit all seinen Vorzügen. Wenn’s gut läuft, nimmt man sich so an, wie man ist – das ist allerdings ein Ideal, von dem ich meistens weit entfernt bin.

Demnächst gehe ich in Rente, ein Zeitpunkt, an dem man gerne Bilanz zieht:

Ich hatte ein Leben. Ein Leben, das ich bewältigt habe; das kann man, glaube ich, jetzt schon sagen. Es hatte viele Tiefen, aber auch viele Höhen.

Ich habe gelacht, gefeiert, gespielt, getanzt, gesungen, gelesen, noch mehr gelesen, geschrieben, noch mehr geschrieben, habe mich x-mal um den Globus gegrübelt, immer mit den gleichen Themen; ich habe tief nachgedacht und eine eigene These zum „Sinn des Lebens“ entwickelt. Man will schließlich wissen, für was man so leidet.

Ich habe gelitten.

Habe geliebt. Und tue es noch. Wurde geliebt. Werde es noch.

Beruflich… naja. Da waren große Ambitionen. Da waren Grips und Courage wie bei so vielen meiner Schicksalsgenossen. Da waren 18 Jahre Werkstatt, davon neun Jahre auf betriebsintegrierten Arbeitsstellen auf dem ersten Arbeitsmarkt, in der freien Wirtschaft.

Und da waren 4,5 Bücher, zwei davon in einem Publikumsverlag veröffentlicht, immerhin. Das halbe Buch sollte eine Anthologie werden, Titel: Kurze Krimis für Kölner Kinder. Es ist schade, dass das nicht geklappt hat. Ich habe noch eine Buchidee im Kopf, vielleicht wird da was draus, drücken Sie mir die Daumen. Dazu kommen ungezählte Artikel. Ich rechne, dass ich ca. 2000 Seiten Text selbst fabriziert habe, dazu habe ich ca. 2.400.000 Seiten Text gelesen (ca. 8000 Bücher). Das sind sehr viele Buchstaben, die durch mein Hirn spaziert sind. Mein armes, müdes Hirn.

Geschlafen habe ich nicht viel. Um eines beneide ich Menschen: Das ist die Fähigkeit, überall und jederzeit einschlafen zu können.

Meine Bücher und Texte, sie waren keine Verkaufsschlager. Aber ich wurde gelesen, hatte ein Publikum, stand die berühmten fünf Minuten im Licht. Vielleicht war es wenig im Verhältnis zum Aufwand, doch viele, viele schreiben und schreiben und finden keine Leser. Das ist bitter.

Ich weiß um die Begabung, mein Talent. Es ist gut, das zu wissen. Daraus ziehe ich Kraft.

Das Berufsleben habe ich mit sechzehn Jahren begonnen (FSJ) und war bis 65 immer in Ausbildung/ Beruf/ Maßnahme. Das ist genug. Sehr stark habe ich versucht, aus eigener Kraft zu leben, aus der Werkstatt in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis zu wechseln, mich zu rehabilitieren. Denn alles andere macht(e) mir Angst. Es macht Angst, wenn man sich nicht auf sich selbst verlassen kann – das war für mich mit das Schlimmste bei der psychischen Erkrankung, dieses Angewiesen sein auf Andere. Die Zeiten können sich ändern, man sieht es gerade.

Bisher habe ich mir nicht das Leben genommen und habe es auch nicht vor. Wenn ich eines Tages doch tue, dann geschieht dies, um mir zu helfen, bei Schmerzen oder Demenz, oder auch bei anhaltender Depression im Alter. Ich bin explizit für Sterbehilfe, auch – gerade auch – bei psychischen Erkrankungen, wenn alle Mittel ausgeschöpft sind. Auch das ist eine Art, sich zu helfen, es ist kein Scheitern.

Alkoholikerin bin ich nicht geworden. Die Versuchung ist groß. Sucht ist durchaus ein Rettungsversuch, bis man erkennt, dass sie die Qualen der Depression verlängert.

Ich hoffe sehr, dass ich in Würde und Anstand lebe. Manchmal glaube ich, dass mir das gelingt und manchmal nicht. Jedenfalls lebe ich „bürgerlich“, und vor allem: selbstständig.

Wehrhaft war und bin ich nicht, vielmehr ein Opfer. Das ist schlecht in einer Welt, in der das Schwache verachtet wird. Zum Glück gab es in meiner Zeit ein Hilfesystem. Viele wissen nicht, wie gut es ist, ein Hilfesystem zu haben, bis sie selbst oder ihre Angehörigen in die Bredouille geraten. Zum Glück konnte ich der Gesellschaft etwas zurückgeben. Zum Glück habe ich viele gute, langjährige Freundschaften, auf die ich mich verlassen kann. Das ist ein großes Glück. Viele Freunde und Freundinnen kenne ich seit der Jugend, wir waren ein eingeschworener Kreis mit Jugendlichen aus dem Mittelstand; mit vielen habe ich heute noch Kontakt.

Finanziell gesehen geht es ihnen besser als mir; sie alle konnten sich ein Haus erwirtschaften, einen Spargroschen. Das war mir nicht möglich. Andererseits kommt es immer darauf an, mit wem man sich vergleicht. Denn mir mangelt es materiell an gar nichts, betrachtet man Menschen aus armen Ländern. Oder arme Menschen in unserem Land.

Mit einer Erkrankung wie der meinen, lernt man, Ziele anders zu setzen, bzw. andere Ziele zu haben. Es geht dann nicht so sehr um die äußere, sondern mehr um die innere Welt. Ich möchte:

•  Mit mir selbst übereinstimmen, zu mir stehen
•  So viel Freude mitnehmen wie möglich
•  So lange wie möglich so gut wie möglich leben
•  Freundschaften hochhalten
•  Das Rauschen der Welt an mir vorbeiziehen lassen
•  Wenn möglich, etwas zurückgeben

Die Psychiatrie hat insgesamt wenig geholfen, mehr geschadet, obwohl ich etliche engagierte, empathische, kluge Profis kennengelernt habe. Doch es ist eine Allmachtsinstitution. Vor der ich mich fürchte.

Oh, diese unendliche Ohnmacht der Patienten.  Die Psychiatrie war, ist, und wird immer sein: MIR UNHEIMLICH. Sie war und ist, von klein auf, mein ganz persönlicher Alptraum. Das ist schlimm, denn ich habe keinen Ort, an den ich gehen kann, wenn ich Hilfe brauche.  Die Medikamente: Ich musste sie mit vorgehaltener Pistole nehmen. Wurde gezwungen.

Ich denke, im akuten Wahn sind Neuroleptika notwendig, allerdings ist es sehr viel besser, (unabdingbar), die Einwilligung des Patienten einzuholen als die Wirkstoffe gegen den Willen, unter Zwang zu geben. Wenn der Wahn abklingt, kann man durchaus versuchen, die Medikamente ganz weit herunterzufahren oder ganz abzusetzen. Denn auch die angeblich nicht süchtig machenden Neuroleptika verlieren aus meiner Sicht nach einer Weile ihre Wirkung. (Ich beziehe mich hier auf eine Wahnerkrankung).

Dann die Diagnosen. Ein ganzes Bündel davon habe ich im Laufe meines Lebens erhalten; von Borderline über paranoide Schizophrenie, Persönlichkeitsstörung, ADS, Anhedonie, schizo-affektive Erkrankung war alles dabei, bis hin zu den endlich richtigen Diagnosen: Bipolare Erkrankung, Angststörung, Abhängigkeit von Tranquilizern (letztere habe ich in Laufe der ärztlichen Behandlung erhalten und immer versucht, mit ärztlicher Hilfe loszuwerden.)

All meine Diagnosen habe ich nach dem ICD 10 überprüft und weiß nun sicher, was ich habe. Ich frage mich bis heute, wie es zu so falschen Zuschreibungen kommen konnte. Das hat mein Vertrauen in die Psychiatrie weiter erschüttert, denn man erkennt, dass die Seelenkunde eine „weiche“ Wissenschaft ist, zeitgeschichtlichen Moden und Trends folgt. Zudem: Diagnosen… sie sind immer defizitär, beschreiben einen „Fall“. Von einem Subjekt wird man zu einem Objekt. Das ist die Voraussetzung für eine Behandlung, die Eintrittskarte in das Hilfesystem. Viele Patienten halten sich genau aus diesem Grund raus aus dem System. Ich selbst versuche, durch das Schreiben wieder ein handelnder Mensch zu werden.

Mit der Erkrankung kam das Gefühl, für immer ganz anders zu sein, nicht mehr in die „richtige“ Welt zu gehören. Diese Denke steckt in meiner DNA, leider. Ich habe mich vor der bipolaren Erkrankung meines Vaters gefürchtet, ich fürchte mich vor meiner eigenen, habe es immer getan, werde es immer tun.

Doch ich habe Humor. Den brauchte ich auch, weiß Gott. Wenn man Sinn für (schwarzen) Humor hat, kann die Anstalt eine Goldgrube sein. Der Endorphinrausch der Manie – das war wunderschön. Ich weiß, dass der bekannte bipolare Autor Thomas Melle das ganz anders sieht – für ihn sind diese Zustände furchterregend. Für mich allerdings nicht.

Der Manie, bzw. der damit einhergehenden Kreativität, verdanke ich vieles, sie hat mich überleben lassen, sie hat mich mit der Depression ausgesöhnt, war mehr Kur als Krankheit. Ich hätte allerdings gerne das manische Hochgefühl mehr auf der ganzen Strecke verteilt gesehen. Willentlich herbeiführen kann ich die Manie nicht, auch nicht, indem ich die Medikamente weglasse. Das ist auch so ein Mythos: Man nähme seine Medikamente nicht mehr ein und dann käme die Krankheit. Nein, die Psychose kommt von selbst. Sie kommt (bei mir) vor allem dann, wenn ich mich nach einer manischen Phase sehr stark „einschnüre“, mir eine ganz starke Struktur verpasse.

Natürlich ist auch bei mir das „Aufräumen“ nach der Hochphase grässlich. Natürlich wüsste ich zu gerne, wie sich ein ganz normales, alltägliches Leben anfühlt.  Mein Leben hat sich oft so angefühlt wie auf einem Segelboot bei Windstärke 11, mit einem besoffenen Kapitän.  Aber durchgekentert bin ich nicht. Und obwohl – oder vielleicht gerade, weil – ich die Psychiatrie so fürchte, habe ich mich doch unendlich viel mit ihr beschäftigt, mich in meinen Texten mit ihr auseinandergesetzt.

Nun kommt die Rente und hoffentlich tritt dieses Lebensthema damit in den Hintergrund.

Ich hatte ein Schicksal und seinem Schicksal kann man nicht entfliehen.

Wenn sie mich fragen, wie mein Leben war, sage ich: Es war anstrengend.

Sehr anstrengend. Doch wenn sie mich fragen, ob ich es noch einmal leben will, dieses Leben, so sage ich:

„Fragen sie mich in einer Ewigkeit nochmal.“

Ein Beitrag von Cornelia Schmitz

Titelbild (Ausschnitt) von Felipe Elioenay auf Unsplash  


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