In seinem Artikel »Seien wir doch realistisch« spricht Stefan Steiniger (Alexianer Klostergärtnerei sinnesgrün | Münster) über das politische Desinteresse an Reformen in Werkstätten, Inklusion und Illusion. Er wendet sich damit im Speziellen an die Politik und will auf deren Verantwortlichkeit hinweisen.
Laut Stefans eigenen Worten soll sein Text „… unsere Situation am allgemeinen Arbeitsmarkt spiegeln und auf die Notwendigkeit von Reformen ansprechen. Er ist auch eine Reaktion auf die Forderung, Werkstätten auf ihre medizinisch rehabilitative Funktion zu reduzieren. […]
Er sollte die Ausgliederung des Berufsbildungsbereichs thematisieren und zum Nachdenken anregen. Vielleicht kann ich mit meinen Worten die Arbeit unserer Werkstatträte unterstützen.“
Wir reden mit! ist eine Kampagne mit dem Motto „Wir wollen den Wandel in den Werkstätten mitgestalten“.
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»Seien wir doch realistisch«
Über das politische Desinteresse an Reformen in Werkstätten, Inklusion und Illusion
Jüngst habe ich im Internet einen Text einer Frau aus einer Werkstatt in Süddeutschland gelesen. Der Text setzte sich kritisch mit der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung in den Werkstätten auseinander. Der Subtext war, ich verkürze das jetzt einmal: Es gibt Werkstätten mit und für Menschen mit Behinderung. Viele arbeiten dort gerne, aber wenn die sich mehr anstrengen würden, könnten die auch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Denen ist das aber lieber so und ihr Wunsch und Wahlrecht auf Teilhabe am Arbeitsleben ist zu respektieren. Aber wenn die mehr wollten, ginge es auch anders. Die stehen sich, so gesehen, selbst im Wege.
Wenn man in die politische Landschaft fragt, findet man viele Unterstützer für diese Meinung. Werkstätten sind auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft ein Hindernis. Und ja, wenn man in die gesellschaftlich historische Entwicklung der Institution Werkstatt für Menschen mit Behinderung schaut, so offenbaren sich aus heutiger Sicht viele Hindernisse beziehungsweise Herausforderungen.
Und genau darum geht es wohl. Niemandem, insbesondere uns als direkt Betroffene nutzt diese Schwarz/Weiß-Sicht. Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind kein Hindernis auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Sie sind eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.
Diese Erkenntnis ist bislang leider noch nicht bei unseren politischen Entscheidungsträgern angekommen. Politik, die ihre behinderungspolitische Programmatik auf die Frage reduziert, ob wir Werkstätten für Menschen mit Behinderung brauchen oder nicht, ist entweder naiv oder arrogant.
Werkstätten abzuschaffen und blind auf die heilsamen Hände des allgemeinen Arbeitsmarkt zu vertrauen, gleicht einer Arbeitsverweigerung. Denn ein allgemeiner Arbeitsmarkt, wenn er sich allein am Ideal der Leistungs- und Profitmaximierung ausrichtet, schränkt den Spielraum für Teilhabe für Menschen mit einem behinderungsbedingten Vermittlungshemmnis rigoros ein.
Ich habe mich letzte Woche mit einem Volksvertreter, Parteizugehörigkeit lasse ich bewusst außer Acht, auf Instagram ausgetauscht und um seine Einschätzung gebeten. Wo stehen wir denn nun, mit unserer vollumfänglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben? Inwieweit ist es gelungen, gesellschaftliche Barrieren zu überwinden?
Und tatsächlich, wir sind auf einem guten Weg…?
Aus dem Stegreif hatte er auch gleich ein paar Statistiken bei der Hand, die seine Aussage untermauern sollten. Leider hatten diese Statistiken ein großes Manko. Die Erfolge betrafen Menschen unterschiedlicher soziokultureller Herkunft oder thematisierten geschlechtsspezifische Unterschiede. Vollkommen gefehlt hat eine Aussage darüber, inwieweit es gelingt, Menschen mit geistiger Behinderung eine Perspektive auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bieten. Dieser Personenkreis genießt immer noch ein Schattendasein.
Aber zurück zu den Werkstätten. Ohne Frage, wir brauchen Reformen in den Werkstätten und politische Partner, die uns, im speziellen unsere Werkstatträte ernst nehmen und den Rücken stärken. Doch was passiert, wenn sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf den Weg macht und versucht, etwas zu verändern, hat man gesehen. Der 2023 veröffentlichte Abschlussbericht über das Entgelt in den Werkstätten hat vieles beleuchtet, analysiert und mit einem bisschen Wohlwollen wäre er eine Grundlage für einen strukturellen Wandel in den Werkstätten gewesen. Zumindest eine Diskussionsgrundlage.
In der politischen Nachbetrachtung wurde daraus eine Bankrott-Erklärung für die Befürworter der Werkstätten. Mit Befürworter meine ich Menschen, die sich einen reformativen Wandel, sozusagen einen Neustart wünschen .
Es kam anders. Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gezogenen Schlussfolgerungen bedeuteten Stillstand. Die Reformen blieben aus, weil sie Mehrkosten bedeuten würden.
Also bleibt alles beim Alten. Und weil auch das schon zu teuer ist, soll Arbeit in der Werkstatt weichen.
Wer die Arbeit aus den Werkstätten heraushalten will, muss sich darüber im Klaren sein: hier wird ein Menschenrecht beschnitten. Was ist dann mit dem Wunsch- und Wahlrecht.
Nur der- oder diejenige darf arbeiten, der/die einen Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt schafft? Wer die Funktion von Werkstätten für Menschen mit Behinderung auf ihren medizinisch therapeutischen Nutzen einschränkt, schafft neue Minderheiten.
Die Werkstatt für Menschen mit Behinderung darf nicht zu einer „inklusiven Resterampe“ werden. Wer die Arbeit aus den Werkstätten verbannt, der entfernt auch ein Stück Lebensrealität aus ebendiesen. Und was ist dann mit der Inklusion? Mit einer vollumfänglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Menschen mit einem behinderungsbedingten Vermittlungshemmnis? Haben wir, wir rund 310.000 Menschen in den Werkstätten nicht auch ein Recht auf Lebensrealität?
Also liebes Bundesministerium für Arbeit und Soziales, seien wir doch realistisch.
Ein Beitrag von Stefan Steiniger
Link: „Wir reden mit!“ – Kampagne auf www.alexianer-werkstaetten.de/muenster/
Foto von Nadine Shaabana auf Unsplash, bearbeitet von Barbara Minnich | AlexOffice
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Danke für diesen wichtigen Text.
Hallo Stefan,
deine wohlformulierten Zeilen erschrecken und machen Mut zugleich. Es stimmt: Es ist sehr traurig, dass der erwähnten Studie aus dem Jahr 2023 keinerlei positive Umsetzungen in der Politik folgten.
Meiner Meinung nach müsste eine zentrale Stelle langfristig und hoch professionell organisiert eine Demonstration an einer oder mehreren empfindlichen Stelle(n) stattfinden lassen. Teilnehmer sollten aber nicht wie in regionalen Kundgebungen nur Werkstatträte oder nur einzelne Werkstätten sein. Mitmachen sollten alle, die irgendwie in und mit Werkstätten zu tun haben. Dazu müssen wir alle aufrufen, damit endlich ein unübersehbares Zeichen gesetzt wird; und wenn das noch nicht hilft, bitte mit Nachdruck.
Wir werden stillgehalten, damit wir schweigen. Wir haben keine echte Lobby. Eigentlich dürfen wir nicht mal demonstrieren gehen. Und dann werden wir mit dem geringsten Werkstattlohn, den es auf dem deutschen Arbeitsmarkt gibt, abgespeist. Das sind vollkommen unhaltbare Zustände. Wir müssen an der Situation, wie wir wahrgenommen werden, etwas ganz Bedeutsames ändern.
Die Alternative liegt darin, dass wir hinnehmen, wie wir minderwertig behandelt werden. Das müssen wir verhindern. Ansonsten leben wir arm und werden ebenso ärmlich sterben, wie wir geboren wurden. DAS DARF NICHT SEIN!
Also, liebe Leser: Werden wir endlich realistisch!