In ihrem Artikel „Sog woaßt du des, ob’s Paradies am Himmei is?“ erinnert sich Cornelia Schmitz (AlexOffice) liebevoll an ihre Mutter und beschreibt einfühlsam die Zeit, in der sie die Mutter gepflegt hat – bei eigener psychischer Erkrankung.
„Sog woaßt du des, ob’s Paradies am Himmei is?“
(Sag, weißt du das, ob’s Paradies im Himmel ist?)
Pflege der Mutter bei eigener psychischer Erkrankung
Den Titel meines Textes über pflegende Angehörige habe ich einem Song der Band „Dreiviertelblut“ entnommen. Ich habe das Stück mit der gleichnamigen Refrainzeile bei der Beerdigung meiner Mutter gespielt, es ist eine wunderschöne, wehmütige, friedliche Ballade.
Jetzt, wo ich dies schreibe, ist sie fast auf den Tag genau ein Jahr tot.
Sie hat nicht gern die Kontrolle verloren, meine Mutter. Es war schwer, ihr dabei zuzusehen, wie sie die Kontrolle über sich selbst, ihren Körper, ihr Geld, ihre Wohnung, Stück für Stück aufgeben musste, jeden Tag ein wenig mehr, mit zusammengebissenen Zähnen, Ingrimm in der Seele.
Das Ende ihres Lebens hat lange gedauert. Ich war die ganze Zeit dabei. Sie ist scheibchenweise gestorben, hat nichts ausgelassen, man konnte ihrem Verfall zusehen, dreieinhalb Jahre lang, im Grunde genommen elfeinhalb Jahre lang.
Meine Mutter wurde 91 Jahre alt. Knapp 92, wie sie gern betonte. Mit 80 bekam sie Brustkrebs, die Brüste wurden amputiert, sie lag auf den Tod. Doch sie war zäh, meine Mutter, ihr Durchhaltevermögen habe ich am meisten bewundert. Mit 88 Jahren kam der Krebs wieder, setzte sich in den Knochen fest, in der Lunge, der Leber. Sie hatte Wasser in den Beinen, stürzte häufig, ihr Gebiss ging im Krankenhaus verloren und vieles mehr geschah.
Sie hat auch nicht gern die Kontrolle über mich verloren, das zähe alte Luder. Ich war ihr Sonnenschein. Sie hat mich ganz schön verpartnert, ich konnte nichts dagegen machen.
Weder meine Mutter noch ich hatten ein leichtes Leben. Mutter hatte drei psychisch kranke Angehörige (bipolare Störung), Vater und ich waren krank, sie ist ihr Lebtag in psychiatrischen Kliniken aus und ein gegangen, auch noch im hohen Alter, die arme Frau.
Aber es ist auch kein Zuckerschlecken, selbst mit dem Auf und Ab der manisch-depressiven Erkrankung zu leben. Es war unendlich schwer für mich, mit dieser Erkrankung (und auch nicht mehr ganz jung) meiner Mutter zur Seite zu stehen, ihr zähes Ringen um die Kontrolle mitzuerleben, die Trauer am Ende auszuhalten.
Wir haben ein Leben lang miteinander gerungen, sie und ich, wie sollte es da am Ende anders sein, bei dieser Belastung durch Krankheit, Stress und Schmerz?
Sie war immer für mich da, ich glaube, sie hätte sich für ihre Kinder das Herz aus der Brust gerissen, wir waren ihr Leben. Doch damit einher ging auch ein ungeheurer Anspruch, eine Verpflichtung bis in den Tod und darüber hinaus.
Wenn ich jetzt an ihr Grab gehe, getraue ich mich kaum, mit leeren Händen zu kommen. Immer bringe ich etwas mit, Blumen, eine Kerze. Denn ich denke (manchmal) (wie ein kleines Kind), dass Mutter mir (von oben) zusieht und mich andernfalls tadeln würde.
Komisch, nicht? Aber so denke ich, (manchmal) immer noch wie ein kleines Kind. Ich habe oft gedacht, dass das Ende meiner Mutter auch mein eigenes Ende bedeuten würde, jedenfalls eine riesige Katastrophe wäre, ich ohne sie nicht leben könne, ohne ihre schützende Hand aus der Anstalt gar nicht mehr raus käme.
Aber so war es nicht.
Es war vielmehr so: Mutter und ich hatten einen Pakt. Wir sind miteinander durch dick und dünn gegangen. Sie war für mich da und ich wollte unbedingt für sie da sein. Ich habe es auch geschafft, mit ganz knapper Not. Um ein Haar wäre ich in der Psychiatrie gelandet, als Corona kam und das Krebsrezidiv meiner Mutter. Das wäre grauenhaft gewesen, für uns beide. Doch ich habe standgehalten, ausgehalten, darauf bin ich stolz.
Körperlich gepflegt habe ich sie nicht; ich war ihre Bevollmächtigte. Sie hatte einen Pflegedienst, konnte bis fast zum Schluss in ihrer eigenen Wohnung leben, es war ein Kampf, sie zu überreden, ins Heim zu gehen. Das hat sie erst getan, als gar nichts mehr ging, zähneknirschend, sauwütend (genau wie ich). Oh, was war ich wütend.
Sie war bis in ihre allerletzten Lebenszentimeter glasklar im Kopf. Was vielleicht nicht unbedingt ein Segen war, denn sie hatte, wie gesagt, keinen leichten Tod und musste das alles irgendwie überstehen, ich weiß nicht, wie das geschafft hat. Beziehungsweise, ich weiß es doch: Sie hat es mit ihrem sturen, alten Bauernschädel geschafft; was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, blieb dort für alle Zeit. „Wir machen immer so weiter“ sagte sie und: „Wir müssen es nehmen, wie es kommt.“ Auf den Herrgott hat sie vertraut, immer, auch mit Wasser in den Beinen, ohne Zähne, mit Schmerzen, mit so vielem Schrecklichen, das einem im Leben widerfahren kann.
Und wie habe ich ausgehalten? Das letzte halbe Jahr (in dem sie im Heim lebte) war schlimm. Das Heim selbst war sehr in Ordnung, allerdings geht es da schon los: Man muss erstmal einen Platz finden. Jede/r, der schon mal einen Angehörigen im Heim untergebracht hat, weiß, dass damit eine Papierflut einhergeht, in der man ersäuft.
Papiere, Anträge, Bürokratie und: Hotlines. Was habe ich Zeit am Telefon zugebracht; ich könnte Noten vergeben für die angenehmste und die nervigste Warteschleife. Geflucht habe ich da und geheult.
Zugleich die Wohnung auflösen, Termine vereinbaren, mit der Krankenkasse verhandeln, sie überall abmelden, wieder Papierflut, nichts ist einfach, gar nichts. Katastrophenmodus.
Dann das Rein und Raus. Raus aus dem Heim, rein ins Krankenhaus. Raus aus dem Krankenhaus, rein ins Heim. Zahlreiche Male, ich immer mit den Klamotten hinterher, Mutter trösten, gute Worte finden, Streit mit ihr aushalten, jederzeit, ich hatte fast kein eigenes Leben mehr.
Was ist mit den armen alten Menschen, die keine Angehörigen haben, keine Freunde? Wer bringt ihnen ihr Necessaire, wer besucht sie? Das sei wohl „eine Lücke im Versorgungssystem“, sagte eine Sozialarbeiterin bedauernd.
Der Notknopf war immer an bei mir, Tag und Nacht, und, tja, ich brauche meinen Schlaf. Es fällt mir schwer, das aufzuschreiben, aber: Es war erleichternd, als sie schließlich starb. Natürlich war es das. Natürlich vermisse ich sie (jetzt).
Jetzt, ein Jahr später, würde ich sie so gerne wiedersehen. In ihrer Küche sitzen, Kaffee trinken, von Gott und der Welt erzählen, wie wir es so oft getan haben. Jetzt denke ich vor allem an die guten Zeiten, ihre Unerschütterlichkeit, ihre Treue, ihren Fleiß, ihre Disziplin, ihre große Liebe, ihre Hingabe. Auch an ihre Lebenslust, ihre Wachheit und Neugierde denke ich gerne.
Das eigentliche Ende, die letzten drei Tage, das war übrigens schön. Sie war klar. Wir, mein Partner und ich, waren bei ihr, wir konnten uns gut und ohne Kitsch voneinander verabschieden. Sie ist alleine gestorben, wir waren kurz in unsere Wohnung gegangen, rufbereit. Noch im allerletzten Moment, praktisch eine Sekunde vor ihrem Tod, wollte sie mich schonen: „Sie brauchen das Kind nicht zu holen, die braucht ihren Schlaf“.
Das Kind. Das Kind hat geheult, als es das hörte.
Und wie hat das Kind es hingekriegt?
Ohne meinen Partner wäre es überhaupt nicht gegangen. Mein Arbeitgeber (Alexianer Werkstätten) war sehr hilfreich, ich konnte im ganz großen Umfang Stunden reduzieren, sie hatten jederzeit Verständnis; ohne das wäre es (für mich) auch nicht gegangen. Ohne gesicherte Lebensumstände wäre es nicht gegangen. Ohne meine Ergotherapeutin dito. Auch nicht ohne Medikamente – damit habe ich mir so gut geholfen, wie es ging. Kurz: Ich hatte ein Handicap, aber eben auch Hilfe. Und: Man kann vieles aushalten, überleben, habe ich gelernt. „Sage nie, das kannst du nicht, vieles kannst du, will‘s die Pflicht“ sagte Mutter gerne, beinhart wie sie war. Dennoch, ich weiß nicht, wie andere Leute das schaffen, vielleicht noch im Beruf, mit Kindern. Es ist viel. Ich war die ganze Zeit depressiv, überstresst, fremdbestimmt, voller Angst.
Es war hässlich, sie zum Arzt, ins Krankenhaus zu begleiten, ihre Diagnosen zu hören, mitanzusehen, wie sie bei jeder weiteren Diagnose zusammenzuckte. Es war hässlich, beispielsweise die Abteilung für Chemotherapie zu sehen – aus Mitgefühl, aber auch aus schierer Angst vor eigener Krankheit, vor dem eigenen Tod. Zugleich weiß man, dass man nun selbst an der Reihe ist, wenn die Eltern versterben. Und dass man nun erwachsen ist, vollständig.
Gemischte Gefühle. Mutter ist tot. Sie hat in Würde und Anstand gelebt, sie ist in Würde und Anstand gestorben. Mir geht es gut. Ich habe das geschafft.
Es war schön, die Beerdigung zu gestalten. Es war schön, den Zyklus des Lebens mitzuerleben. Die Trauerfeier war schön, schlicht und würdevoll, und in der Nacht vor der Bestattung fiel eine Last von mir ab.
RIP Mama.
Vielleicht, nur vielleicht, weißt du ja, ob’s Paradies im Himmel ist.
Ein Beitrag von Cornelia Schmitz
• Titelbild (bearbeiteter Ausschnitt) von Vicki Hamilton auf Pixabay
• Songtext von Dreiviertelblut: „Sog woaßt du des, ob’s Paradies am Himmei is?“
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