Der neue Artikel von J. T. (AlexOffice) stellt uns die in der Theaterwelt zur Legende gewordene britische Regisseurin und Dramatikerin Sarah Kane vor, deren ausdrucksstarke Werke menschliche Abgründe aufführten, in ihrer Intensität heftige Kontroversen auslösten und gleichzeitig mit Preisen bedacht wurden. Sarah Kane kämpfte ihr Leben lang mit innerer Zerrissenheit und Depressionen.
Sarah Kane
„Wenn Du erstmal begriffen hast, dass das Leben grausam ist, ist die einzige Antwort darauf, es mit so viel Menschlichkeit, Humor und Freiheit zu leben, wie Du kannst.“
Ein zunächst überschaubares Werk
Sarah Kane war eine britische Dramatikerin, die mit ihren Stücken das Publikum so nachhaltig beeindruckt, verstört und das Theater auch ein gutes Stück revolutioniert hatte. Ihr früher Tod machte sie zu einer weiteren tragischen Legende.
Es waren „nur“ fünf Stücke, die Kane bis zu ihrem Tod mit 28 Jahren verfasste, aber diese hatten es in sich.
• Zerbombt
(Originaltitel: „Blasted“)
Mit dem Erstling Blasted (dt.: Zerbombt), ihrem ersten kontroversen Stück begann Kanes Karriere. Die Erstaufführung von Blasted fand im Januar 1995 im Royal Court Theatre statt. Hier finden sich bereits alle Themen Kanes: Verletzungen, Einsamkeit, Macht, seelischer Kollaps – und natürlich (versagte) Liebe. Ein Kammerspiel. Das Paar, Ian und Kate, betritt ein Hotelzimmer in Leeds. Der folgende Albtraum beginnt mit Ians markigem Satz: „Ich war schon nobler scheißen als hier.“ Eine Szene die im Frühling beginnt und im Sommer mündet. Die Verhältnisse hier drinnen sind so zerrüttet wie da draußen, wo ein Bürgerkrieg tobt, wovon der kurze aber nicht unmaßgebliche Auftritt eines Soldaten zeugt. Dass zwischen den beiden Protagonisten so einiges kaputt ist, wird auch gerade durch die fragmentierten Dialoge deutlich. Kate wurde vergewaltigt (nicht von einem anonymen Soldaten, sondern von Ian)!
Die Grausamkeit des Krieges bricht in die scheinbar heile Welt des Hotelzimmers in Gestalt des Soldaten ein, der von seinen Gräueltaten berichtet und seine innere Verrohung gleich darauf beweist, indem er beide Augen Ians herausbeißt und isst. Solch derbe Twists und heftige Explosionen kennzeichnen Kanes Stücke. Blasted schlug bei Boulevard wie Feuilleton ein. Die Verbindung von einer Vergewaltigung in einem Hotelzimmer in Leeds zu dem Grauen eines Bürgerkriegs wurde von den Kritikern wohl übersehen. Man unterstellte Kane ein reißerisches Stück, das bloß schockieren sollte, auf die Bühne bringen zu wollen.
Ähnlich wie bei ihren Einflüssen Georg Büchner, Samuel Beckett, Edward Bond und James N. Barker bleibt alles Tröstliche geschweige denn so etwas wie ein Happy End aus.
• Phaidras Liebe
(Originaltitel: „Phaedra‘s Love“)
Jean Racines Tragödie von Phaidra und Hippolytos wird hier neu aufgezogen bzw. radikal dekonstruiert und in die Postmoderne überführt – Phaidra als bedauernswertes Stiefmütterchen und Hippolytos als fress-, Sex- und TV-süchtiger Taugenichts. Hier zeigte sich Kanes abgründiger Humor in vielleicht schon voller Blüte. Der verzogene Prinz Hippolytos setzt alles daran, sein unversehrtes ICH vor sich und ihr zu bewahren.
Kane scheint aus heutiger Sicht eine echte Pionierin gewesen zu sein, auf mehreren Ebenen. Mit Mark Ravenhill und Anthony Neilson hatte sie das „In-Yer-Face“-Theater begründet. Kane thematisiert in Phaedra’s Love im Kern Liebesunfähigkeit, auch Egomanie, Liebeswahn, Einsamkeit und Selbstentfremdung…
Hier ein Auszug aus der ersten Szene:
Arzt: „Was macht er den ganzen Tag?“
Phaidra: „Schlafen.“
Arzt: „Wenn er aufsteht?“
Phaidra: „Filme schauen und Sex haben.“
Arzt: „Geht er auch aus?“
Phaidra: „Nein. Er ruft Leute an. Sie kommen vorbei. Sie haben Sex miteinander und verschwinden wieder.“
Sie, Phaidra, wird vergewaltigt und ermordet vom Objekt ihrer Begierde (Hippolytos), dessen Vater (Theseus) tat seiner Gattin (Strophe) dasselbe an. Doch auch ihm widerfährt zum Ende eine bittersüße Gerechtigkeit.
Robert Borgmann brachte dieses Stück im Frühling 2022 in Hamburg mit Stefanie Reinsperger (SOLO!) auf die Bühne. Alle weiteren Darsteller blieben Stimmen aus dem OFF.
Borgmann inszenierte auch Crave: Gier im Originaltext. Es ist nach Cleansed (dt.: Gesäubert) ein sehr rhythmischer, bilderreicher Text. Die vier namenlosen Figuren (C, B, A, M) bilden womöglich eine geschlossene (wie zerrissene) Individualität. Am Ende des Stücks, das als quälende Selbstoffenbarung gelesen werden kann/will, könnte Kane eine Todesankündigung mitgeliefert haben. So deutlich zeigte sie ihre Verzweiflung und innere Zerrissenheit bis dato in keinem ihrer Texte.
Zum Schluss: Der Sturz ins Licht. Eine ambivalente Erlösung (wie bei Cleansed und Blasted), die Erlösung vom Ich und die radikale Selbstzerstörung…;*
• Gesäubert
(Originaltitel: „Cleansed“)
„Du musst in der Phantasie zur Hölle fahren, damit du nicht in Wirklichkeit dort endest!“ hatte Kane mal gesagt. Und wie in den vorangegangenen, trifft dieser Satz auch hier den Grundton/die Quintessenz dieses Dramas. Dem Titel Cleansed (dt.: gesäubert, befreit, erlöst, geläutert) kommen gleich mehrere religiöse Bedeutungen zu, und Kane nimmt dem Thema „Liebe“ auch hier wieder mal alle Leichtigkeit und jede erquickende Aussicht.
Das Stück spielt (eigentlich) in einer Universität. In der Bühnenbearbeitung von Peter Zadek wird der Campus zur Anstalt (in Zadeks Fassung von 1998 ist es eine vergitterte Einrichtung, ein Stück mit Anklängen an Kafkas Strafkolonie und Büchners Woyzeck.
Menschliche Abgründe sind bei Kane keine Seltenheit, sondern Normalität. In Cleansed behandelt sie Drogenmissbrauch, psychische Abhängigkeit und Mangel an Gegenliebe als Symptome kaputter Verhältnisse, die sich in lakonischer, scheinbar zielloser Kommunikation durchgehend spiegeln. Tinker heißt der Psychiater, die monströse Autorität (bei Zadek von Ulrich Mühe verkörpert), der seinen Untergebenen Gliedmaßen abtrennt, wenn sie ihre Liebe irgendwem kundtun.
„Liebe oder töte mich“, heißt es im Stück und ist zugleich die Devise. Der Psychopath Tinker wird zum Ende dieses bitteren Stücks als fragiler armseliger Wurm entlarvt, weil Opfer seiner eigenen Gefühle, freigesetzt von einer namenlosen Frau, die ihn offenbar (wahrhaftig/bedingungslos) zu lieben scheint.
Cleansed endet jedoch mit Graham, dem Junkie aus der ersten Szene (von dessen Körper nicht mehr viel übrig ist und dem Tinker den goldenen Schuss bereitete), mit dem zunehmenden Lärm von Ratten wie zunehmendem gleißenden Licht…
• Gier
(Originaltitel: „Crave“)
Man muss seelisch schon ziemlich stabil sein, will man sich absolut auf diese Texte einlassen. Das wird in Crave (dt. Gier) nochmal besonders deutlich. Ein anonymes Stimmengewitter bricht hier los, eine einzige, schier nicht enden wollende Szene. Es scheint, als habe Kane die Kraft oder Lust verloren für eine konventionellere Form. Es war wohl eher blanke Absicht.
Wäre bei Kane eher ein musikalische Untermalung von Joy Division oder Nick Cave naheliegend, kam es bei Christopher Rüdings Inszenierung zur Wahl von Alphaville, Joe Cocker und…: Britney Spears…! !! !!!
Das tat der Wirkung des Stücks aber keinen Abbruch – die Verzweiflung und Sinnleere (die verzweifelt zu füllen versucht wird) kommen hier ungefiltert zum Ausdruck. Doch Kanes klare poetische Sprache erzeugt einen unwiderstehlichen Sog.
Kane war sich sehr wohl über den Standort ihrer Stücke im theaterhistorischen Kontext bewusst. Sie schrieb nicht bloß für’s Theater, sondern leitete auch Workshops für junge Dramatiker bei Paines Plough sowie der European Summer School des Londoner Royal Court Theatre.
Es folgte noch ein weiteres, letztes Stück, in dem die Autorin ihre Depression fast dokumentierte…
• 4.48 Psychose
(Originaltitel: „4.48 Psychosis“)
Es gibt eine nüchterne Erklärung zu diesem Titel: Sarah Kane wachte während ihrer Depressionsphasen jeden Morgen, kurz vor Morgengrauen, um Punkt 4.48 Uhr auf. Dieses finale Stück wurde posthum veröffentlicht und für die Bühne inszeniert.
Ein (scheinbar) einziger Dialog zwischen Therapeut und Patient, die beide nicht als solche gekennzeichnet sind – oder vielleicht doch ein inneres Zwiegespräch?
So beginnt es:
Sehr langes Schweigen
„Aber Sie haben doch Freunde“
Langes Schweigen
„Sie haben sehr viele Freunde. Was geben Sie Ihren Freunden, dass sie so hilfsbereit sind?“
Langes Schweigen
„Was geben Sie?“
Schweigen
…und dann ein großer, tiefe Einblicke gewährender Satz…:
„…ein stabilisierendes Bewusstsein thront in einem abgedunkelten Festsaal nahe der Deckenwand eines Geistes dessen Boden schwankt wie zehntausend Kakerlaken wenn ein Lichtstrahl eindringt während alle Gedanken zusammenschießen für einen Moment im Einklang Körper nicht länger mehr ausgegrenzt während die Kakerlaken eine Wahrheit umschließen die niemand ausspricht…“
…etwas später dann…:
„Wenn er aufwacht, wird er mich beneiden um meine schlaflose Nacht voller Gedanken und Reden ungetrübt von Medikamenten…“
„Ich hab mich dem Tod überlassen dieses Jahr…“
„Manche werden sagen: die übertreibt (Glückliche, die nicht wissen, was daran wahr ist) Manche werden den Schmerz kennen als simplen Fakt…“
Bedenkt man die Schwere ihrer Depression, muss man Kane für diesen Kraftakt und die quälend konkrete Konfrontation mit ihrem Leiden Respekt zollen, wenngleich genau das ihre finale Verzweiflungstat begründete. Während andere Künstler, deren Schaffen therapeutisch wirkt, die Ausflucht aus der Depression suchen, drang Kane ins Zentrum des Schmerzes und ließ auf dem Weg dorthin offenbar keine Zwischenstation aus.
Dieses gewaltige letzte Kapitel ihres dramatischen Werks endet mit der Zeile:
„Wem ich nie begegne, das bin ich, sie, mit dem Gesicht eingenäht in den Saum meines Bewusstseins.“
Schlusswort
Sarah Kane litt ihr Leben lang unter depressiven Schüben und mit jedem wurde sie ein bisschen schwächer. Ihren letzten Schub und die anschließende Behandlung bekam sie im Sommer 1998. Als, entgegen ärztlicher Vorschrift, ihre Schwester sie eine Weile allein ließ, nahm diese beeindruckende Frau sich am 20. Februar 1999 das Leben.
Ein Beitrag von J. T.
Weiterführende Links
• „Sarah Kane“ auf Wikipedia
• „The Work Of Sarah Kane: Part One“ auf Youtube (englisch)
• „The Work Of Sarah Kane: Part Two“ auf Youtube (englisch)
• „Cleansed by Sarah Kane: The Most Gruesome Love Story You’ve Never Heard Of“ auf Youtube (englisch)
Literaturtipp
• Corinna Brocher und Nils Tabert: „Sarah Kane. Sämtliche Stücke.“ (Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Hamburg, 2002)
Bilder
• Titelbild: „Zerbombt“ von Sarah Kane – Theater Bonn auf theaterkompass.de, Copyright Thilo Beu
• Portraitfoto „Sarah Kane“ von Jane Bown auf en.wikipedia.org (Bildquelle: www.theguardian.com)
• 5 Screenshots aus 2 Youtube-Videos: „The Work Of Sarah Kane: Part One“ und „The Work Of Sarah Kane: Part Two“
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Danke Jan, dass du an diese Frau erinnerst.