Kritisch – doch am Ende auch mit einer zuversichtlichen Vision – beleuchtet L.S. (AlexOffice) in seiner Erzählung »Arme Weihnacht« das Verhalten der Menschen in der Weihnachtszeit.
Arme Weihnacht
Verumtamen Filius hominis veniens, putas, inveniet fidem in terra? *
Als die Herzenskälte in der Welt so schneidend wurde, dass es nur noch Besiegte und Sieger gab, – diese, welche sich alles kaufen und erlauben konnten, wie es ihnen eben gerade einfiel, jene, die Verlierer, ganz real auf der Straße, gestrandet im Streben und Ringen des Lebens nach ein bisschen Anerkennung, Glück und Wärme – da ereignete sich wieder das beinah vergessene Weihnachtsfest.
Diese „freien Tage zum Ende des Jahres“, wie es allgemein hieß, wurden im Skiurlaub oder an karibischen Stränden verbracht, um erholt von der Glühwein- und Zimtstern-Atmosphäre des beginnenden Winters gut beruflich in das neue Jahr durchstarten zu können. Zuhaus blieben nur Hochbetagte und Gebrechliche, denen die Strapazen des Reisens nicht zugemutet werden konnten; diese besuchten aus Langerweile die kulturellen Angebote großer Oratorien oder Orchestralmessen als Hologramme herausragender Soundqualität in den ansonst wie leer gefegten, alten Kirchen, welche man sich aus Denkmalschutz-Erwägungen, trotz bester Innenstadtlage, abzureißen scheute. Wer noch daheim blieb, das waren die Armen, sprichwörtlich Zurückgebliebene, resigniert an den Schaufenstern des scheinbar alles versprechenden Konsums vorüberziehend, um sich angelegentlich bei den illegal entfachten Feuern aufzuwärmen und einander ihre Träume zu erzählen.
Während also die wohlausstaffierten Kinder des Establishments in den Urlaubsressorts dieser Welt ihren Eltern vor den riesigen Tannen für eine bordende Masse an Geschenken dankten oder nörgelten, wieder nicht das Richtige erhalten zu haben, kam an einen dieser mild brennenden Sperrholz- und Papphaufen, um den sich Zerlumpte versammelt hatten, ein durchgefrorenes Paar heran, kaum unserer Sprache mächtig, isoliert und so der Verelendung preisgegeben, mit einem wimmernden Neugeborenen im Arm – und da e r e i g n e t e s i c h W e i h n a c h t e n , einer der Bedürftigsten zog seinen wärmenden Schal vom Hals und reichte ihn der Frau, andere, welche kaum abgelaufene Konserven aus der Mülltonne eines Feinkostladens gestohlen hatten, gaben; sie sangen von Gerechtigkeit, Zugewandtheit, sozialem Frieden und spürten, dass in jedem Menschen ein liebendes Gedenken des unerkennbar großen Gottes weht.
Ein Beitrag von L.S.
* Anm. d. Red.: „Verumtamen Filius hominis veniens, putas, inveniet fidem in terra?“ (lat.) = „Doch wenn des Menschen Sohn kommen wird, meinst du, dass er auch werde Glauben finden auf Erden?“ (aus dem Evangelium nach Lukas, Kapitel 18, Vers 8)
Titelfoto (Ausschnitt) von Robert Cheaib auf Pixabay
Auch du kannst deinen Text, dein Gedicht, deine Erfahrung oder auch deinen Podcast bei uns einreichen. Unter Kontakt findest du unsere Ansprechpartner. Schick uns dein Werk und wir veröffentlichen es.