Zurzeit feiert die Kunsthalle Mannheim eine bedeutende Ausstellung der Kunstrichtung „Neue Sachlichkeit“ aus dem Jahr 1925 in einer Neuauflage mit dem Namen »Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum«. Christoph Kühn (AlexOffice) stellt sie uns hier mit wissenswerten Fakten und Informationen vor und zeigt auch eine Auswahl an Bildern.
Die Neue Sachlichkeit – Ein Jahrhundertjubiläum
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Ausstellung in der Kunsthalle Mannheim
22.11.2024 – 09.03.2025
Die Kunsthalle Mannheim erinnert nach 100 Jahren mit einer großen Schau an ihre legendäre, 1925 gezeigte Ausstellung „Neue Sachlichkeit. Deutsche Malerei seit dem Expressionismus“. Die damals junge Richtung in der Malerei Deutschlands war durch die Mannheimer Ausstellung einer breiten Öffentlichkeit bekannt geworden. Zugleich wurde der Begriff „Neue Sachlichkeit“ als verbindende Bezeichnung etabliert. Der Begriff ist zu einem Synonym für Rationalität und sachliche Präzision in Malerei, Grafik, Architektur, Design, Fotografie und Literatur der Weimarer Republik geworden. Jetzt rekonstruiert eine große Schau die Ausstellung. Sie nimmt vor allem die damaligen Triebkräfte und Themen in den Blick.
„Die bittere Härte des Blicks“
Die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs (1914-1918) brachten der Kunst in Deutschland und Österreich neue Impulse. Junge Künstler aus der Generation der zwischen 1890 und 1900 geborenen lösten sich von einer abstrahierenden Formensprache des Expressionismus und des Kubismus. Angesichts der verheerenden Realität von Krieg, Elend und sozialen Verwerfungen erschienen ihnen die kunsttheoretischen Debatten der Expressionisten über Formen und Linien, über Farbwirkung und Abstraktion wirklichkeitsfremd.
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In der Malerei der neuen Künstlergeneration, der „Neuen Sachlichkeit“, gab es einerseits eine unpolitische Richtung, die den Alltag und das Menschenbild zeigte und sich formal an den Kunststilen der Renaissance und des Klassizismus orientierte. Wichtige Vertreter waren Alexander Kanoldt, Christian Schad, Arno Henschel und Carlo Mense. Daneben stand eine gesellschaftskritische Richtung mit provozierenden Aussagen, die vor allem von Otto Dix und George Grosz vertreten wurde. Außerdem existierte eine dritte Richtung, jene des magischen Realismus. Sie vertrat eine mystische Sicht auf die Wirklichkeit; ihr wichtigster Künstler war Franz Radziwill.
Mit einer schonungslosen Offenheit, die oftmals bis zum Zynismus ging, stellten die Künstler die Widersprüche ihrer Zeit heraus: einerseits den Glanz der „goldenen Zwanziger“ mit rauschenden Maskenbällen und Kostümfesten, andererseits die brutale Lebenssituation und das moralische Elend: Sie malten Prostituierte und ihre Zuhälter, Schieber, Kriegsversehrte und die Leichenberge auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Häufig wurde ihre Kunst zum Mittel der Anklage und des Angriffs, zumindest aber war sie die Ausdrucksform „einer bitteren Härte des Blicks“ (Werner Haftmann) auf die Unsicherheiten und das Chaos der Zeit. Daneben bestand ein starkes Interesse, mit künstlerischen Mitteln das Unterbewusstsein zu erkunden und die menschliche Psyche zu beobachten.
Diese Kunst stellte trotz ihrer Gegenständlichkeit keineswegs eine Rückkehr zum Realismus des 19. Jahrhunderts dar. Denn als eigene Merkmale kennzeichnen eine scharfe, überdeutliche Zeichnung alles Gegenständlichen und ein klarer, oftmals bis zur Bewegungslosigkeit festgefügter Bildaufbau die „Neue Sachlichkeit“.
In den 1920er Jahren, besonders in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach 1923, war die „Neue Sachlichkeit“ eine der führenden Kunstrichtungen in Deutschland und Österreich. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929/30 verlor sie allerdings rasch an Bedeutung. Die Machtergreifung durch den Nationalsozialismus bedeutete 1933 einen Einschnitt. Manche der Künstler dienten sich an, andere wurden verfemt und verließen Deutschland, wieder andere wie Anita Rée und Elfriede Lohse-Wächtler wurden in den Tod getrieben oder gar ermordet.
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Die „Neue Sachlichkeit“
Anfangs kursierten mehrere Bezeichnungen für diese Malerei: Neorealismus, Neuer Naturalismus und Magischer Realismus. 1925 setzte sich ein vierter Begriff durch, der bis heute der übliche geblieben ist: „Neue Sachlichkeit“. Der Schöpfer dieser Bezeichnung war der damalige Direktor der Kunsthalle Mannheim, Gustav Friedrich Hartlaub. Bereits 1923 hatte Hartlaub unter Kunsthistorikern und Galeristen eine Umfrage durchgeführt, um die Tendenzen der neuen Malerei auszuloten. Zwei Jahre später präsentierte er auf dieser Grundlage 32 Maler mit 125 Arbeiten in einer großen und vielbeachteten Überblicksschau.
Die Mannheimer Ausstellung von 1925 gliederte das Material nach den innerhalb der „Neuen Sachlichkeit“ vorherrschenden Tendenzen. Frauen kamen allerdings nicht vor, obwohl mit Erna Dinklage, Elsa Haensgen-Dingkuhn, Lotte Laserstein, Elfriede Lohse-Wächtler und Anita Rée auch Künstlerinnen der „Neuen Sachlichkeit“ angehörten.
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Im Anschluss war die Ausstellung in jeweils abgeänderter Form in Dresden, Chemnitz, Erfurt und Dessau zu sehen, was zu ihrer Breitenwirkung beitrug. Anfang 1933 zeigte Hartlaub an der Kunsthalle Mannheim eine Fortsetzung.
Bereits 1995 zum 70-jährigen Jubiläum hat die Kunsthalle Mannheim eine Gedächtnisausstellung veranstaltet. Nun, 100 Jahre später, erweitert die aktuelle Jubiläumsausstellung das Konzept von Hartlaub beträchtlich. Sie zeigt mehr als 230 Arbeiten von 124 Künstlerinnen und Künstlern. Im Mittelpunkt stehen die Bildthemen der „Neuen Sachlichkeit“: das Zeitgeschehen, der Alltag, die Industrialisierung, eine neue Mobilität, das Menschenbild, die neue Rolle der Frau, Stillleben und Landschaften. Dabei wurde versucht, möglichst viele der vor 100 Jahren in Mannheim gezeigten Bilder einzubeziehen. Darüber hinaus wird anhand von Edward Hopper und Georgia O’Keefe der Einfluss der „Neuen Sachlichkeit“ auf die Kunst der USA betrachtet.
Ergänzend rekonstruiert eine multimediale Raumkonstruktion die historische Ausstellung von 1925 in digitaler Weise. Denn es konnten immerhin 112 der 125 seinerzeit gezeigten Werke ermittelt werden.
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Katalog
Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog im Deutschen Kunstverlag, München. Neben Abbildungen aller ausgestellten Werke enthält das Buch Aufsätze über die in der Ausstellung behandelten Themenbereiche und zu zentralen Fragen der „Neuen Sachlichkeit“. Der Katalog von 1925 ist in dem neuen Band als Reprint enthalten.
Die Neue Sachlichkeit / The New Objectivity – Ein Jahrhundertjubiläum / A Centennial, herausgegeben von Inge Herold und Johan Holten. München: Deutscher Kunstverlag 2024, 352 S., 350 farbige Abbildungen, ISBN 978-3-422-80250-6. Buchhandelsausgabe 56 Euro, Museumsausgabe 40 Euro.
Allgemeine Informationen
DIE NEUE SACHLICHKEIT – EIN JAHRHUNDERTJUBILÄUM
Kunsthalle Mannheim
Friedrichsplatz 4
D-68165 Mannheim
Ausstellungsdauer: 22.11.2024 – 09.03.2025
Öffnungszeiten:
Dienstag, Donnerstag bis Sonntag & Feiertage: 10 bis 18 Uhr,
Mittwoch: 10 bis 20 Uhr,
1. Mittwoch im Monat: 10 bis 22 Uhr,
Montag geschlossen
Besuchertelefon: 0621 293-6423 (Mo-Fr 9-12 Uhr)
E-Mail: info@kuma.art
Weblinks:
• kuma.art
• 1920er.art
Eintrittspreise:
Regulär: 14 EUR
Ermäßigt: 12 EUR
Abendkarte: 10 EUR
Familienkarte (2 Erwachsene mit Kindern unter 18 J.): 24 EUR
Kinder und Jugendliche unter 18 J.: Eintritt frei
Menschen mit Schwerbehinderung (ab 50%): Eintritt frei
Eintritt frei: Erster Mittwoch im Monat, 18-22 Uhr
Die Kunsthalle Mannheim ist barrierefrei.
Ein Beitrag von Christoph Kühn
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