»Ich bin ein Zaungast in der Welt der Anderen« nennt Cornelia Schmitz (AlexOffice) ihren Artikel, in dem sie über neurodiverse und neurotypische Menschen nachdenkt und beschreibt, worum es sich dabei handelt.


 

»Ich bin ein Zaungast in der Welt der Anderen«

Ein schöner Satz, nicht?
Gesagt hat ihn vor etlichen Jahren ein in Berlin lebender Mann mit Asperger-Syndrom. Der Berliner wirkte in einer Doku des ÖRR über Autismus mit; leider habe ich die Sendung nicht mehr gefunden.
Soweit ich es noch in Erinnerung habe, handelte es sich um ein Portrait des autistischen Mannes; er hatte es zu einiger Bekanntheit gebracht, hielt Vorträge und schrieb Bücher.
Ich war seinerzeit gefesselt von diesem hochspannenden Menschen mit seinen vielen Begabungen, aber auch Hemmnissen.

Ich erwähne es, weil dieser Text von neurodiversen und neurotypischen Menschen handelt.

Was ist das?
Die Begriffe klingen auf den ersten Blick fast wie Satire. Ich dachte zunächst, sie wären dem Hang geschuldet, alles Mögliche umzubenennen und damit vermeintlich „aufzuhübschen“.

Doch was verbirgt sich dahinter?

Neurodiversität oder Neurodivergenz – solche Konzepte gibt es bereits seit den späten 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Sie entstanden als Reaktion auf die herrschende Meinung, psychisch abweichendes Verhalten sei immer pathologisch, also krank oder gestört.
Neurodivergenz geht nun von einer sehr breit gefächerten Variation der Verhaltens- und Denkweisen von Menschen aus und definiert damit unser Verständnis von „Normalität“ neu. Diesem Modell entsprechend seien neurobiologische Unterschiede Möglichkeiten unter anderen Möglichkeiten und die Gehirne der neurodiversen Menschen arbeiteten anders als diejenigen, die als „neurotypisch“ bezeichnet werden, sprich als „normal“.
Im Prinzip sollten Menschen jedweden neurologischen Status’ als neurodivers gesehen werden (weil jeder Mensch unterschiedlich ist); dennoch gibt es den Begriff der Neuro-Minderheit – diese Minderheit sei eben nicht neurotypisch.

Wer wird als neurodivers gesehen? Das bewertet jede Quelle anders. Dazu zählen u.a. Menschen mit Diagnosen wie Autismus, Hochbegabung, Dyspraxie, Lese – und Rechtschreibschwäche, Synästhesie, ADHS oder Tourette-Syndrom.
Fraglich ist, wie es sich mit der bipolaren Störung oder anderen Persönlichkeitsstörungen, wie etwa der Borderline-Störung verhält.
Die Schizophrenie taucht im neurodivergenten Modell gar nicht auf, ebenso nicht die Demenz oder die Parkinson-Erkrankung.

Aus dem Neurodivergenz-Modell folgt, dass neurodiverse Menschen in ihrer Individualität und ihrem „So-sein“ unterstützt und gefördert werden sollen. Dies tritt an die Stelle von Pathologisierung, eher verurteilenden Diagnosen und dem Gedanken, dass Neuro-Minderheiten „geheilt“ werden müssten.

Und was ist nun eigentlich noch normal oder neudeutsch „neurotypisch“?

Das sind Menschen, die, ganz vereinfacht gesagt, so sind, wie der größte Teil der Mitmenschen. Sprich: Es sind Menschen, die ihre Anforderungen mit den ihnen (der Allgemeinheit) zur Verfügung stehenden Mitteln so ähnlich in den Griff bekommen wie die Meisten.

Und daraus folgt was? Es folgt daraus, dass, wenn die „Neurodiversen“ irgendwann die Mehrheit bilden, sie dann die neuen „Neurotypiker“ wären, nämlich die – Mehrheit.

Was halte ich eigentlich von der ganzen Sache?

Ich bin zwiegespalten.

Einerseits habe ich bei Durchsicht meiner älteren Texte festgestellt, dass ich im Grunde genommen so etwas wie eine Pionierin des Neurodivergenz-Konzeptes war:
Ich bin z.B. 2009 humorvoll der Frage nachgegangen, wie es wohl wäre, wenn in der fernen Zukunft die psychisch Kranken die Welt pflegten:

Diskordier – Wahn und Wirklichkeit Jahr 2480 (Bild von Stefan Keller auf Pixabay) »Wir Diskordier müssen auseinanderhalten!« (Xblog-Beitrag vom 2. Juli 2021)

Und selbstverständlich ist jeder Mensch einzigartig und individuell; natürlich ist die Förderung im Idealfall dementsprechend passgenau. Auch mag ich den Gedanken, dass man möglichst noch dem eigenartigsten Seepferdchen Rechnung tragen sollte.
In Köln sagt man: „Jeder Jeck ist anders“ und dieser Sinnspruch gefällt mir.

Meine Werkstatt ist sehr heterogen. Bei uns arbeiten Menschen jeden Alters, jeder Nationalität, jeder Religion, jeden Geschlechts, jeder Körperform. Natürlich gibt es bei uns einen Verhaltenskodex, natürlich gibt es keine Gewalt und kein Mobbing. Wir sitzen am Mittagstisch zusammen und unterhalten uns.
Doch wir bilden Grüppchen und es gibt auch sehr viele Menschen, die ganz für sich bleiben (wollen). In der Werkstatt trete ich sehr vorsichtig auf, gehe zuzeiten wie auf Eiern, checke behutsam ab, bei wem ich ein Witzchen landen kann, rechne ein, dass meine Kollegen schlechte Tage haben mögen.  Und natürlich habe auch ich solche Tage, Tage, an denen ich auf dem Schlauch stehe, kaum kommunikationsfähig bin.
Die Gruppenleiter wiederum scheinen mir sehr, sehr viel homogener, wie sie uns im Meeting gegenüberstehen. Eine geschlossene Gruppe, die sich ohne weitere Verhandlungen versteht. Und sicher auch Konflikte hat.
Ich kenne den ersten Arbeitsmarkt und da war vieles – ich finde kein besseres Wort – normaler als bei uns. Selbstverständlicher. Doch auch unsensibler und rauer.

Ist das alles jetzt gut oder schlecht? Wird es eine neue „Normalität“ geben? Wie wird sie beschaffen sein? Harvey Blume sagte „Neurodiversität kann genauso entscheidend für die menschliche Spezies sein, wie es die Biodiversität für das Leben im Allgemeinen ist“.
Vielleicht ist das so. Wie wird die Welt aussehen, wenn die Neurodiversen die stärkste Gruppe bilden? Auf welchen Maßstab wird man sich einigen können? Wird Toleranz dann nicht überstrapaziert?

Denn jetzt kommt mein Aber und mein Andererseits:
Ich fühle mich unwohl, wenn es die – wie soll ich mich ausdrücken – „normale“ Normalität nicht mehr gibt. Eine unverrückbare Realität. Herr und Frau Mustermann dürfen nicht aussterben. So etwas wie die „wahre Wirklichkeit“, eine allgemeine Richtschnur, an der man sich orientieren kann, muss bleiben.
Denn diese Richtschnur ist die Folie, vor der sich mein „Wahnsinn“ abspielen kann. Sie bildet den Rahmen für eine gemeinsames Miteinander, in dem man sich auf allgemeingültige, unverrückbare Regeln verständigt. Und damit meine ich nicht nur die Gesetze, sondern auch so etwas wie den Knigge, ich meine die Regeln des „guten“ Benehmens, so etwas wie: „das tut man“ und „das tut man nicht“.
Wir dürfen nicht anfangen, alles aufzuweichen, sonst verlieren wir die Bodenhaftung. Zwei und zwei ergibt vier, und zwar immer.
Das ist die Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die, so scheint es mir, sowieso immer brüchiger, immer ausgefranster, immer stressiger wird. Gemeinsame Grundüberzeugungen machen das Leben einfacher.
Wenn es kaum noch Verbindlichkeit und Allgemeingültigkeit gibt, wird das vermutlich anstrengend, auch, und vor allem für neurodiverse Gehirne. Oder besser gesagt: für unflexible Gehirne, die an Reizüberflutung leiden.

Ich sehe weitere Probleme, z.B. in der Förderung. Fließt noch Geld, oder hört der finanzielle Segen auf, wenn, sagen wir, Menschen aus dem Autismus-Spektrum demnächst nicht mehr als „krank“ oder „gestört“ gelten? Werden sie in der Arbeitswelt mitkommen müssen, zumal der Markt dringend Leute sucht?
Wie werden Diagnosen gestellt und was besagen sie? Ich kenne zahlreiche Menschen mit Diagnosen aus dem Autismus-Spektrum, all diese Menschen sind höchst unterschiedlich. Letztens hörte ich im Hinblick auf Autisten den Spruch: „Kennste einen, kennste einen“.
Zudem scheint mir das Neurodiversitäts-Konzept vor allem auf Autisten zugeschnitten zu sein. Menschen aus dem Autismus-Spektrum kommen meistens mit Technik und Digitalisierung richtig gut klar, oft besser als die „Neurotypiker“. Sind sie folglich „behindert“ oder „hochbegabt“?
Ergibt diese Unterscheidung überhaupt noch Sinn in einer nicht mehr neurotypischen Welt?
Und wenn Autismus allmählich salonfähig wird, gilt das dann auch für die Schizophrenie? Schon seit langem gibt den Topos von Genie und Wahnsinn, trotzdem werden wahnerkrankte Menschen stark stigmatisiert.

Viele Fragen.

Der eingangs erwähnte Berliner mit seiner Autismus-Spektrums-Diagnose erklärte in einem Vortrag:

„Sehen Sie, ich rede ganz normal, ich halte Augenkontakt, meine Arme schwingen frei. Und dennoch: Ich bin ein Zaungast in der Welt der Anderen.“

Genauso fühle ich mich auch.
Vielleicht gibt es einmal eine Welt, in der jeder nach seiner Façon selig werden kann.
Ich bezweifele es. Leider.

Ein Beitrag von Cornelia Schmitz 

Quellen:
Neurodiversität – Wikipedia
Neurodiversität bei Kindern: Bedeutung, Beispiele & Diagnose – www.familienservice.de
• 
Was ist Neurodiversität / Neurodivergenz? | So zeigt sich die Vielfalt in unseren Köpfen. – www.spektrumfrau.de

Foto (Ausschnitt) von Joe Green auf Unsplash


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