Unsere AlexOffice Kollegin Marie-Louise Buschheuer begibt sich zum Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung auf Spurensuche. Wie viele Menschen mit Behinderung eigentlich in Deutschland leben und wieso der Tag so wertvoll und wichtig ist, erfahrt ihr hier.
„Bist du behindert?!“ – In meiner Jugend ein gänzlich natürlicher Ausruf, wenn man jemanden beleidigen wollte. Heute sehe ich das anders. Selber behindert ist es mir wichtig, dass Menschen mit Behinderung ein Bestandteil der Gesellschaft sind. Doch das ist immer noch nicht überall der Fall, selbst in Deutschland ist Inklusion ein schwieriges Thema.
Heute, am 3. Dezember, ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung. Ein guter Zeitpunkt um das Licht mal auf ein paar Fakten zu lenken, über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen und, vielleicht auch mal, den Blick auf bereits bestehende Inklusion und mangelnde zu lenken. Hier und anderswo.
Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung
1992 wurde der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung von den Vereinten Nationen ins Leben gerufen und erstmals 1993 als Feiertag begangen. Er soll das Bewusstsein der Bevölkerung für Menschen mit Behinderung schärfen und den Einsatz für ihre Rechte und ihre Würde fördern.
Besonders steht heute die Aufklärung im Mittelpunkt, denn immer noch stoßen Menschen mit Behinderung auf Vorurteile. Und damit ist es eigentlich auch traurig, dass wir einen solchen Tag brauchen, denn im Grundgesetz steht, dass niemand wegen einer Behinderung benachteiligt werden darf. Denn alle Menschen sind gleich und damit auch gleiche Rechte und auch gleiche Chancen. Doch dass das nicht der Fall ist, ist immer wieder zu sehen.
Zahlen aus Deutschland
Wenn wir den Blick auf Deutschland werfen, hat destatis.de einiges an Zahlen zu bieten:
Im Jahr 2019 lebten rund 10,4 Millionen Menschen mit Behinderung in Deutschland. Bei knapp 83 Millionen Einwohnern sind das immerhin 12% der Bevölkerung.
Davon gelten knapp 4,9 Millionen als erwerbsfähig, könnten also arbeiten gehen. Und hier ist die erste große Diskrepanz: liegt die Quote bei nicht behinderten Menschen bei gut 82%, die arbeiten gehen oder aktiv nach einer Arbeit suchen, so liegt sie bei Behinderten nur bei 57%.
Und diese Zahlen setzen sich weiter fort: 3,8% der Bevölkerung haben keinen Schulabschluss, gar keinen. Bei Menschen mit Behinderung sind es 16%. Schaut man auf den höchstmöglichen Schulabschluss in Deutschland, das Abitur, so findet man ähnliche Zahlen. Lediglich 12% der Menschen mit Behinderung machen das Abitur, bei Menschen ohne Behinderung sind es 28%.
Spurensuche und Erfahrungen
Warum ist das so? Warum ist die Zahl der Menschen mit Behinderung bei Schulabschlüssen aber auch bei Erwerbstätigkeit deutlich geringer als im Durchschnitt?
An dieser Stelle schwenke ich von den reinen Fakten ab, zu Erfahrung und zu dem, was ich in meinem Umfeld mitbekomme. Und wie so oft heißt hier das Zauberwort: Inklusion. Denn nur durch Inklusion, durch das Einbinden von Menschen mit Behinderung, in normale Schulen und normale Jobs, kann diese Zahl steigen.
Doch immer wieder stoßen wir hier auf Hürden, die wir nicht alleine und manchmal gar nicht überwinden können.
Auch meine eigene Geschichte ist immer wieder an diesen Hürden gescheitert. Das begann bereits in der Schule. Ich war auf einem stinknormalen Gymnasium, meine Erkrankung war noch nicht bekannt, weder mir noch sonst jemandem, ich galt einfach als auffälliges Kind. Doch schon damals hätte ich Hilfe gebraucht, weswegen mir vieles schwer fiel. Schlussendlich hab ich die Schule abgebrochen, bin mit Klasse 12 Fachabitur gegangen. Immerhin ein Abschluss. Aber ich kann es nachvollziehen, wenn Kinder mit Behinderung auf einer Regelschule nicht mitkommen. Zwar gibt es immer wieder wirklich gute Beispiele, in denen die Inklusion wunderbar funktioniert, aber mehr als 4% der Kinder gehen immer noch auf Förderschulen.
Der erste Arbeitsmarkt
Auch auf dem ersten Arbeitsmarkt ist es oftmals schwierig genug, gerade wenn die Behinderung einen auf irgendeine Art und Weise einschränkt oder besondere Ausstattung nötig ist. Und das fängt oftmals schon bei dem Zugang zum Gebäude an: Viele, gerade alte Gebäude, sind nicht Rollstuhl- oder Rollatorgerecht. Wer besondere Hilfsmittel benötigt, ist darauf angewiesen, dass sie ihm gestellt werden. Viele dieser Hilfsmittel sind teuer, Hilfen können zwar beantragt werden, aber aufgrund der Bürokratie dauert es manchmal unglaublich lange. Und es gibt wenige Firmen, die bereit sind, die Kosten selber zu übernehmen.
Auch Menschen wie ich, die psychisch erkrankt sind, haben oftmals mit den Unwägbarkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes zu kämpfen. Sei es zum Beispiel der Versuch in Teilzeit zu arbeiten. Oder ein ruhigeres und stressfreieres Umfeld.
Die Hürden sind gewaltig und im Laufe der vergangenen Jahre sind sie noch größer geworden. Hinzu kommen die Anforderungen an die Beschäftigten, denen jede*r Arbeitssuchende ausgesetzt ist. Diese Kombination macht es vielen Menschen mit Behinderung schwer bis unmöglich, einen „normalen“ Job zu finden. So wandern sie von Reha über Maßnahme zu Reha, manchmal in unterbezahlte Jobs, die wieder zu Stress führen und oftmals zurück in die Erkrankung.
Fazit Internationaler Tag der Menschen mit Behinderung
Der Tag ist wichtig, das steht außer Frage. Die Belange von Menschen mit Behinderung werden trotz UN Menschenrechtskonventionen, UN Behindertenrechtskonventionen und den Mühen unserer Regierung, immer noch nicht in dem Maße umgesetzt, wie es nötig wäre. Inklusion ist in Deutschland hochgelobt, schwächelt aber immer noch an vielen Stellen. Immer wieder kommt es zu Gesetzesvorlagen, die Menschen mit Behinderung einschränken, es Unternehmen der freien Marktwirtschaft zu einfach machen, die „Behindertenquote“ zu umgehen und die Hürden für Menschen mit Behinderung sehr hoch anzusetzen.
Bürokratische Umwege, wenig Aussichten auf konkrete Hilfen und ausgrenzendes Verhalten erschweren es zusätzlich.
In denkwürdiger Erinnerung ist mir eine Firma geblieben, in der ich in meiner Jugend einen Ferienjob hatte: in einem kleinen Büro saß ein älterer Mann und legte dort den ganzen Tag Akten an. Er riss von alten Aktendeckel den Beschriftungsaufkleber ab oder klebte neue auf eben jene. Den ganzen Tag. Mir wurde er direkt am ersten Tag vorgestellt mit den Worten, er sei Alkoholkrank und würde damit die Behindertenquote erfüllen. Musste ich das wissen? Hatte es Einfluss darauf, wie ich mit dem Mann umgegangen bin? Nein, sicherlich nicht. Aber die Firma war stolz darauf, einen Behinderten zu beschäftigen. Für mich ist dieses Erlebnis negativ in Erinnerung geblieben. Und heute, gut zwanzig Jahre später immer noch ein Beispiel, wie es nicht laufen soll, wie falsch die Einstellung in vielen Köpfen noch ist und wie schwer man es als „Behinderte*r“ eigentlich haben kann.
Denn ob wir es zugeben wollen oder nicht, „Bist du behindert?“ ist immer noch eine Beleidigung, die von vielen zu schnell in den Mund genommen wird.
Quellen der Statsitik: destatis.de, rehadat-statistik.de, bpb.de
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