In seinem Interview am »MEET-WOCH«, einem Social Media Projekt der Alexianer Werkstätten, erfahren wir Interessantes, Bedenkenswertes und Persönliches von und über den Schriftsteller und Privatgelehrten Werner Otto von Boehlen-Schneider


 

Mein Interview am »MEET-WOCH« 2023

Das Interview am »MEET-WOCH« führte Viktoria Willmann (Unternehmenskommunikation Alexianer Werkstätten / GWK).

Herr von Boehlen-Schneider, erzählen Sie uns doch gerne, wie Sie zu demjenigen wurden, der Sie heute sind?

Gern und mit offenem Herzen. Es tut mir auch selbst gut, mit Blick auf die Anfänge voranzuschreiten. Le monde est un livre dont chaque pas nous ouvre une page. Doch vielleicht lässt sich dies Organische kurz in vier Begriffspaare fassen: Landschaft und Geschichtlichkeit, Katholizität und Humanität, Zweifel und Geworfenheit, ahnende Schau und liebendes Wagnis. − Knapp umreißend sei angedeutet: meine Herkunft, der Weserraum, wirkt in gefächerter Zeitlichkeit und kultureller Verwobenheit, im Einklang mit Naturerleben, in mir nach. Das tradierte christliche Moment, an welchem ich mich stoßen kann, formt wie das Wasser einen Fels und wird mir als verstandesmäßige humanitas zuweilen fruchtbar, feste Durchlässigkeit, Dynamik des Wandels. So wichtig das, aufgrund des Zweifels, der sich selbst verneint, auch ist, seh’ ich den Mangel ein, und auch in anderem, als Riss, den zu beheben im Letzten nicht verstattet bleibt, geworfen, um geworden zu erdulden. Und solches hegt naturhaft auch den Wunsch nach Mancherlei, Weiten aus Beschränkung, gleicht dem Ouroboros umfassender Gefasstheit, Schmerz und Fülle in sich einend. The rest is silence.

Was hat Ihnen geholfen, mit diesem „Riss“ zwischen sich und anderen zu leben?

Meine Großeltern waren sehr verständnisvoll − und ich hatte das Glück, mit vielerlei Haustieren aufzuwachsen, Pferden, Hausziegen, Kaninchen, Hühnern und Pfautauben. Auch später wie noch heute half und hilft mir der Kontakt zu Tieren, meinen Meerschweinchen Philemon und Baucis, dem Schlesischen Warmblut Adorator.

von Boehlen-Schneider als Kind mit den Hausziegen Liese und Lotte ...

Werner Otto von Boehlen-Schneider als Kind mit den Hausziegen Liese und Lotte …

... und heute mit dem Schlesischen Warmblut Adorator

… und heute mit dem Schlesischen Warmblut Adorator

 

Welche Philosophen haben Sie in Ihrem Leben beeinflusst?

Aus dem zu Anfang Dargestellten heraus scheinen Aufgehen im Moment wie Ewig-Pantheistisches, Vergehen des Buddhistischen wie konträr Materialistisches, Mit-Werden des Idealistischen und der jenseitsverheißenden Bekenntnisse erstrebenswert. Doch ist dies auch das Wahre? In je eigenen Kontexten wurden Menschen Einsichten des kairos, doch ein Ganzes sehen wir wohl nicht. Fakt und Gefühl miteinander denken, sodass uns stets von Neuem Fragen werden, Pfade ins Ungewisse, der vorsokratische Pessimismus, erinnernde Bewegtheit und hingeordnetes Wissen bei Platon und Aristoteles, Pflicht wie ruhende Seins-Freude in Stoa und Epikureismus, das Systemische bei Thomas, noch weiter verkürzend Realitäten und Ekstase bei Comte und Nietzsche, Absurdität und Sorge bei Camus und Heidegger, die mich ähnlich anraunende Wandelweite Kierkegaards und hundert als für wahr erkannte Dinge eines Blickes, noch im Schatten, können genannt werden, ohne solcherart operierend Seneca zu vergessen: „Die Philosophie lehrt handeln, nicht reden. Sie fordert, dass jeder nach seinem Gesetz lebe, dass sein Leben nicht seiner Lehre widerspreche, und dass es, ohne Missklang im Handeln, auf einen Ton gestimmt sei. […] Wem wird das wohl gelingen?“

Was haben Sie als Kind gern gelesen?

Diese Thematik hat mich tatsächlich durch einen meiner alten Professoren, Werner Graf, beschäftigt und lässt sich zu guter Letzt in die nüchterne Erkenntnis kleiden: nicht viel anderes als wohl jeder Knabe, von „Robinson Crusoe“ zu den „Drei Fragezeichen“; ich mochte die (Zeit-)Reisegeschichten der „Lustigen Taschenbücher“ bis zum circa zweihundertsten Band, Brehms „Tierleben“ und „Sophies Welt“, Michael Ende, Bücher über den Weltraum und Dinosaurier, las nur mehr und intensiver, war introvertierter und verträumter als Kinder gemein zu sein pflegen.

Und was hat Sie daran begeistert?

Schlüssig in (alternativen) Realitäten phantasieren, um auszuloten, was dem Geist möglich ist. Daher bin ich wohl kein Krimi-Fan; ein nuanciert doch ewig Gleiches interessiert mich nicht. Es ist die Fülle des Denkbaren, welche reizt, verdichtete Darstellung und ahnende Schau im erfassten Gedanken, mit der Entwicklungsmöglichkeit zum Guten hin, in der Dramatik recht Entfaltung finden kann. Und, nicht zu vergessen: Le coeur a ses raisons que la raison connaît pas.

Wie hat ihr Umfeld als Kind darauf reagiert?

Nun ja, die Klassenlehrerin der Grundschule wollte mir anerkennend einen „Leseorden“ verleihen. Andere Kinder hingegen fanden mich wenig gesellig, später stand der Einwurf einer Realitätsflucht aus einengenden Strukturen im Raum; rückblickend meine ich, sagen zu können, dass die sich täglich ereignende Wirklichkeit mir nicht interessant genug war, während Unmengen des Wissens und der Phantasie, Annäherungen zur deitas latens, lockten, rückzügiges Verhalten erklärbar machen.

Wie äußerte sich Ihre Neugierde?

Oftmals in Detailstudien: ich sammelte Fossilien im Muschelkalkgestein der Umgebung, erstellte Tabellen und Schablonen zur Verschiebung der Wochentage, auch deren Planetenstunden, bis ins Jahr 2096, notierte Niederschlagsmengen, Barometerstände usw., sammelte und katalogisierte Scheidemünzen aller Herren Länder, zeichnete Aufrisse und Ansichten bestehender Architektur, die Krukenburg inspirierte sehr, entwarf träumerisch vor allem romanisch-barock anmutende Sakralbauten, bastelte Modelle, skizzierte Wappenschilde der Paderborner und Münsteraner Geschlechter.

Oder sie äußerte sich lokalhistorisch-genealogisch: auf dem Urkataster des Jahres 1830 ist ein Haarbrücker Flurstück „Vor dem Ottenhagen“ benannt, eine Hofstatt gleichen Namens schon 1367 urkundlich mit Friedrich von Amelunxen und Arnold von dortigem Hagen bezeugt; sie fiel wohl wie das nahe Eddessen und Haarbrück 1447 der Soester Fehde zum Opfer − und jenes Familiengefüge könnte ins nahe, mit dem spätgotischem Kirchenausbau aufstrebende Beverungen-Jakobsberg umgesiedelt sein, so spekulierte ich als Jugendlicher mit dem Ortshistoriker Hermann Hartmann über Modales, welches sich letztlich nicht erhärten ließ. Gesagt werden konnte, dass ein Zweig meiner dort später urkundlich nachweisbaren Familie zu Martini 1724 ins drei Kilometer entfernte Haarbrück (zurück-)siedelte, den Gutshof Boehlen von einer gleichnamigen Familie erwarb und seitdem führt. Zurzeit hat diesen der Onkel zweiten Grades, Wilhelm, Cousin meines Vaters, inne; beide waren miteinander recht unzertrennlich, bis sie sich 2007 wegen Erbpacht- und Holzrechten zu meiner Ungunst fürchterlich dividierten, erst auf dem Sterbebett meines alten Herrn, 2019, versöhnten. Hier lagen westfälisches Aufrichtigkeitsempfinden und Sturheit nah beieinander. Ich selbst verzichtete um des Friedens willen auf erbpachtlichen Landgewinn und erhalte Tradiertes im um den Beruf des Großvaters ergänzten nom de plume von Boehlen-Schneider. − Und dann befragte ich auch Zeitzeugen, welche sich jedoch zuweilen nicht gern erinnern wollten.

Blick von der an einem Hügel gelegenen Hofstatt Boehlen auf Beverungen-Haarbrück im Weserbergland Blick von der an einem Hügel gelegenen Hofstatt Boehlen auf Beverungen-Haarbrück im Weserbergland
Blick nahe der Hofstatt Boehlen auf die Fluren Bornegrund, Tynsborn und Ottenhagen, Ort einer mittelalterlichen Wüstung Blick nahe der Hofstatt Boehlen auf die Fluren Bornegrund, Tynsborn und Ottenhagen, Ort einer mittelalterlichen Wüstung

 

Hat sich Ihre Präferenz dahingehend im Laufe der Zeit gewandelt?

Ich lese eher intensiv als extensiv. Seit sich im Alter von circa 25 Jahren die melancholische Erbmasse verfestigte, wählte ich mir in der Woche vielleicht zwei bis drei Bücher und fasste hin und wieder einen mehr oder weniger des Festhaltens werten, mich angehenden Gedanken, um ihn aufs Papier zu entlassen.

Welche An- und Einsichten waren besonders prägend für Sie?

Viel Klassisches, und manches, welches sich aus meinen Schriften herauslesen lässt. La Comédie humaine, auch in ihrer politischen Tragweite; scio me nihil scire; Streben trotz Vergänglichkeit; Belebung und Erhebung durch ein musisches Moment, denn Schönheit ist verehrenswert, wenn sie sich Idealen nähert.

Und weshalb waren diese prägend?

Manche Töne verfangen sich in konstituierten Resonanzräumen zur Evidenz, anderes perlt wie Regen vom pflanzlichen Blatt. Ich verstrickte mich als junger Mensch in selbstreferentiellen Systemen, der Philosophie des Mittelalters und deren Ausläufern − ihr Anspruch kann beruhigend sein, aber bildet Wirklichkeit allzu ausschnitthaft ab. Doch Bildhaftes als Symbol lebt, bei Gefahren von Beliebigkeit wie Ambiguität, in Offenheiten aufs Andere hin und scheint mir Potenzial zu bergen. Es ist daran, die poetische Unsagbarkeit des Ewigen in der Klang-Fügung Beethovens, Wagners, Bruckners und Mahlers miteinander zu denken, dem Wort nahe zu bringen, so lang verlorne Bänder knüpfend, da Krieg, Not und die Dummheit sie vergaßen; oder, wie unser symbolischer Altmeister Goethe sagte: Natur und menschlicher Geist miteinander verkantet gedacht „sind ein Abglanz jenes Urlichts droben, das unsichtbar alle Welt erleuchtet“.

Wie haben Sie diese in Ihrem Alltag begleitet?

Mannigfaches hilft, Realitäten kongruent her- oder abzuleiten, weshalb das Naturrecht als Modell noch heutig existiert, obgleich es der (Post-)Moderne zuwider ist. „Everything goes“ bedeutet auch: „anything could happen − and we’re responsible“. Pandorens Büchse birgt Inkommensurables von Errungenschaft und Verderben. Wie wird dies alles enden? − Es ist daran, einen Stand im Guten einzunehmen, auch wenn das bedeutet, Diskrimination durch in anderen Talenten gelagerte Massen, denen dies zu fassen nicht gegeben ist, mit Trauer zu erdulden − Lieder meines frühlingshellen Morgens in die Welt des Schalles lassend. Ein Imago, wächsern verfälscht, doch manches Verschattete heraushebende Gesichts-Negativ wären die Verse: Wer bin ich? Ein minniglich Denkender / wirkend Beschenkender − / licht’nen Gewebes von silbernen Hallen / in des Unsagbaren Schweigen hinein.

Was würden Sie zuletzt anderen philosophisch Interessierten mitgeben wollen?

YOLO & carpe diem! Gebrauche, da du nur einmal lebst, deine Zeit sinnvoll; strebe zum Guten, Schönen und Wahren, sei verantwortlich, mit hörendem Herzen, wissender Hand, dir selbst und anderen von Nutzen − sei mutig! Kurt Marti sagte einmal: „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten: ‚Wo kämen wir hin‘ und niemand ginge, einmal zu schauen, wohin man käme, wenn man ginge“. Die Bundesregierung führt, ohne durch Bündnisverpflichtungen hierzu aufgefordert zu sein, Materialschlachten mit Russland. Dies muss sofort enden − ebenso wie, meines Erachtens, die NATO-Osterweiterung. Eine Neutralitätserklärung der Ukraine und sich dort etablierendes Kriegsdienstverweigerungsrecht wären sinnvoll, die Krim sollte souveräner Staat werden; ansonsten stehen wir heute womöglich an Abbruchkanten zum 3. Weltkrieg. Der Klimawandel als unser aller Problem, welches globaler Lösung bedarf, wird mental verdrängt, das 1,5-Grad-Ziel ist nun unerreichbar geworden; ich erinnere an Seneca: Facere docet Philosophia, non dicere (Handeln lehrt die Philosophie, nicht reden).

Herr von Boehlen-Schneider, ich danke Ihnen für das Gespräch. 

 

Werner Otto von Boehlen-Schneider (eigene Grafik)

 

Ein Beitrag von Werner Otto von Boehlen-Schneider (Grafiken, Text, Fotos)
im Rahmen des Social Media Projekts »MEET-WOCH« 

Lest hier auch Werners MEET-WOCH Interview 2022:

Titelgrafik von Werner Otto von Boehlen-Schneider zu seinem MEET-WOCH Interview 2022


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