In seinem Artikel »Raymond Carvers Geschichten vom Abgrund« beleuchtet unser Kollege J. T. aus dem AlexOffice das Leben und die Werke des amerikanischen Schriftstellers Raymond Carver, der in seinen Geschichten über die Abgründe von Menschen erzählt, die durch das Mittelklasseleben in der US-Gesellschaft des 20. Jahrhunderts gebrochen werden.
Raymond Carvers Geschichten vom Abgrund
Manche unter den ganz Großen innerhalb der Kunst gehen lautlos in der Versenkung unter oder ihnen ist nie die Aufmerksamkeit zugekommen, die sie verdient hätten. Dieser Autor beansprucht seine Leser nicht wenig – vielmehr sind seine Werke mit jenen hervorragender Jazzmusiker vergleichbar – auch diese muss man sich erarbeiten um zu ihrer wahren Schönheit vorzudringen …
Carvers Stil
Carvers Geschichten erzählen in einfachen Sätzen von einfachen bzw. von vom normalen Mittelklasseleben gebrochenen Menschen. In zwischen aufs Wesentliche reduzierten Dialogen/Dialogfetzen wird viel geschwiegen, und diesem Schweigen kommt zugleich eine unheimliche Bedeutung zu. Wie beispielsweise in der Kurzgeschichte „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, in der wie etwa in Seán O’Caseys „Windfalls“ kleine Türen in scheinbar vertraute Welten aufgestoßen werden, ehe diese urplötzlich wieder zufallen, bevor oder nachdem man sie wieder verlassen hat.
Der Underdog
Der überwiegend von Insidern geschätzte Erzähler Carver, aus dem nordwestlichen Oregon, gilt bis heute als Ikone unter den „Underdogs“ der amerikanischen Erzählkunst des 20. Jahrhunderts. Mittels seines prägnanten Stils verstand es Carver in lakonischen, lebensechten Dialogen die Lebenswelt des „White Trash“ der Nachkriegsjahrzehnte, in der Ära von Eisenhower und Kennedy, die Beziehungsstörungen und Beziehungslosigkeit derer am Rande und die tief verwurzelten sozialen Missstände seiner Protagonisten der US-Gesellschaft, zu beleuchten. So machte er die Lebenssituationen wie auch das Lebensgefühl der Menschen seiner Zeit nachempfindbar.
Carvers eigene Abgründe
Carver litt über 25 Jahre an einer Alkoholabhängigkeit. Dies schlug sich in zahlreichen seiner Geschichten nieder. In gewisser Hinsicht ist sein Stil mit jenem John Fantes oder gar Bukowskis vergleichbar, doch dringen bei ihm die Melancholie und der Sound innerer Zerrissenheit sowie die Suche nach Verlorenem eindringlicher durch. Bis zum Erfolg seines Bandes „Würdest Du bitte endlich still sein, bitte“ schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch. Die Schauplätze seiner Geschichten sind die Kleinstädte und Trailer-Parks der Westküste und des mittleren Westens.
Carver war die letzten elf Jahre seines Lebens mit der Dichterin Tess Gallagher verheiratet. Der Beginn dieser Beziehung war es auch, der seine Abkehr vom Alkohol begründete. Gallagher hatte ihn, den die London Times einmal als Amerikas Tschechow bezeichnete, offenbar nie in betrunkenem Zustand erlebt. Carver hatte sich also einem radikalen Entzug unterzogen, als sie sich kennenlernten.
Carvers Freund und Schriftstellerkollege Richard Ford („Frank Bascombe-Trilogie“) berichtete von seiner ersten Begegnung mit ihm auf einem Literaturfestival in Dallas im Jahre 1977 – damals waren beide noch quasi unbeschriebene Blätter. Der spätere Raymond Carver trat öffentlich als stattlicher, sonnengebräunter und durchaus nicht unattraktiver Mann in Erscheinung, doch zu jenem Zeitpunkt war er hager, knochig, wirkte unsicher und sprach sehr leise und zaghaft, erzählte Ford. Carvers Haare seien ein einziger Filz gewesen – ein Mensch, so Ford, der offenbar anderes im Kopf hatte als sich um Äußerlichkeiten zu kümmern.
Tipps für Einsteiger
All jenen, die zuerst über den Film zur literarischen Vorlage finden, sei Robert Altmans „Short Cuts“ wärmstens empfohlen. Man bekommt in diesem Film ein gutes Gespür für die Themenwelt, in der sich Carvers Kurzprosa bewegt, auch für das virtuose Geschick des Autors in aller Kürze und Prägnanz die Lebenswirklichkeit von Scheiternden nachzuzeichnen.
Der Episodenfilm basiert frei auf neun Stories aus der Feder Carvers. In Altmans „Short Cuts“ geraten die einzelnen schicksalhaften Folgen zu einem schillernden wie düsteren Gesamtbild, welches über die meisten Sequenzen des Films die Grundstimmung in Carvers Erzählungen gut bis hervorragend widerzuspiegeln versteht.
Eine Übersicht von Raymond Carvers Werk
Prosa
– „Kathedrale“, Piper-Verlag 1985
– „Wovon wir reden wenn wir von Liebe reden“, Piper-Verlag 1989
– „Warum tanzt ihr nicht“, Piper-Verlag 1992
– „Würdest Du bitte endlich still sein bitte“, Berlin-Verlag 2000
– „Erste und letzte Stories“ Berlin-Verlag 2002
– „Ferne“ (ursprüngliche Version der Story „Alles klebte an ihm“), Krachkultur 12/2008
– „Beginners“ (Uncut), Fischer-Verlag 2012
Lyrik
– „Gorki unterm Aschenbecher“, Maro-Verlag 1992
– „Gedichte“ (kleine Auswahl aus den letzten Gedichten), Krachkultur 12/2008
– „Ein neuer Pfad zum Wasserfall“ (letzte Gedichte), Fischer-Verlag 2013
Ein Beitrag von J. T. ;*
Titelfoto (Ausschnitt) „Tribute to Raymond Carver in Iowa City, United States“: Charles Kremenak auf flickr
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