»Trotz Behinderung …« – über diese Formulierung in einer Zeitungsüberschrift ist Marie-Louise Buschheuer (AlexOffice) gestolpert. Die Worte haben sie nicht nur zum Nachdenken gebracht, sondern auch trotzig gemacht. Lest selbst.
»Trotz Behinderung …«
Eine Zeitungsüberschrift fiel mir heute ins Auge: „Trotz Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt“. Und ich stutzte, dann rollte ich mit den Augen und seufzte. Was mich daran stört? Das Wörtchen Trotz.
Warum es mich stört, erfahrt ihr hier.
(Ich nutze zur besseren Lesbarkeit vorrangig männliche Bezeichnungen, es soll sich aber explizit auf alle Geschlechter beziehen.)
Trotz
Der Duden kennt zwei Definitionen für das Wort, hier erstmal diejenige, um die es hier geht:
„obwohl eine Person oder Sache einem bestimmten Vorgang, Tatbestand o. Ä. entgegensteht, ihn eigentlich unmöglich machen sollte; ungeachtet; ohne Rücksicht auf“
Und damit sind wir schon mittendrin im Thema. Es geht nämlich darum, dass man etwas schaffen kann, erreichen kann, leisten kann, obwohl man eigentlich nicht dazu in der Lage ist.
Im Zusammenhang mit einer Behinderung und mit Hinblick auf die Schlagzeile wird damit impliziert: derjenige kann das eigentlich nicht, er ist dafür nicht geeignet.
Ohne den Artikel zu lesen, weiß ich, der Mensch dahinter ist für seine Aufgabe geeignet, er ist qualifiziert und er kann und wird sie wunderbar ausfüllen.
Also, was steht demjenigen im Wege?
Behinderung
Der Überschrift nach und der landläufigen Meinung ist es eindeutig die Behinderung. Denn trotz dieser… hatten wir schon.
Doch schauen wir einmal von der anderen Seite auf das Problem: Da ist ein Mensch mit Behinderung, der durch eine Ausbildung oder Förderung qualifiziert ist. Dieser Mensch möchte gerne arbeiten, seinen Lebensunterhalt selbst verdienen und ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft sein.
Denn es ist immer noch so, dass für viele das dazugehört. Wir definieren uns in Deutschland sehr stark über die Arbeit.
Daher ist es nur recht und billig, dass dieser Mensch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Job annimmt, einen sozialversicherungspflichtigen Job, um es noch genauer zu definieren.
Doch da ist dann dieses Problem: die Behinderung.
Vielleicht macht sie ihm das Gehen schwer bis unmöglich, vielleicht braucht er einen ruhigen Arbeitsplatz, vielleicht braucht er mehr Pausen, vielleicht…
Trotz Behinderung
Und damit sind wir auf der anderen Seite der Überschrift angekommen. Denn hier geht es eigentlich gar nicht darum, dass dieser Mensch eine Behinderung hat, die es ihm unmöglich macht zu arbeiten. Für viele Behinderte reicht wenig, um einer normalen Tätigkeit nachzugehen, doch in unserer derzeitigen Wirtschaft werden diese „Ausnahmen“ nur selten gemacht. Wer nicht zu 100% ins Profil passt, kann nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten.
Wer sich nicht in eine Form pressen lässt, aus welchen Gründen auch immer, hat es schwer.
Und das trifft nicht nur Behinderte, sondern diese nur umso mehr. Ein konkretes Beispiel: Ich durfte eine junge Frau kennenlernen, die mehr als qualifiziert für eine Tätigkeit am Empfang war, oder als Schreibkraft. Sie kann sehr schnell im Zehn-Finger-System schreiben, auch nach Band, hat eine wunderbare Telefonstimme und eine gewählte Ausdrucksweise. Zusätzlich war sie auch noch hübsch anzusehen.
Sie hat nur einen Nachteil: sie ist blind. Und jetzt stellt euch bitte vor, ihr kommt in ein Unternehmen, die Empfangsdame begrüßt euch höflich, meldet euch telefonisch bei eurem Gesprächspartner an und erklärt euch den Weg oder bringt euch zu ihm. Nur, sie schaut euch nicht wirklich an, weil sie euch halt nicht sehen kann.
Finger hoch, wen das stört. Die meisten würden jetzt sagen, mich nicht. Und doch, sie fand keine Stelle.
Denn sie brauchte ein sogenanntes Screen-Reading-Programm und besser noch eine Braille Zeile zusätzlich für den PC. Das ist mit Kosten verbunden. Vielfach übernehmen der LVR oder andere Landschaftsverbände diese Kosten. Doch das dauert. Und viele wollen solchen Menschen auch einfach keine Chance geben, weil „das kann ja nicht funktionieren, was ist, wenn das und das passiert.“
Wir werden es nie erfahren, wenn wir es nicht probieren.
Trotz
Und deswegen finde ich die Aussage „Trotz Behinderung…“ so dermaßen zum Kotzen – verzeiht mir die Wortwahl.
Ich führe trotz Behinderung ein schönes Leben – nein, ich habe erst durch meine Behinderung gelernt, was wichtig im Leben ist.
Ich habe trotz Behinderung einen tollen Job – nein, meine Behinderung hat mir erst die Türen für diesen Job geöffnet.
Ich kann mein Leben trotz Behinderung alleine leben – nein, meine Behinderung hat mir geholfen, meinen Lebensrhythmus zu finden.
Und vielleicht bin ich jetzt trotzig, denn Trotz bedeutet: hartnäckiger [eigensinniger] Widerstand gegen eine Autorität aus dem Gefühl heraus, im Recht zu sein.
Marie-Louise Buschheuer
sternenruferin
Foto (Ausschnitt) von Jan Canty auf Unsplash
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Herzlichen Dank für deinen Beitrag, Mary-Lou! Wer sich ein Bein brach, kann vielleicht nicht mehr tanzen gehen, doch ist nicht in allen anderen Dingen eingeschränkt. Den Mut zu haben, zur Beeinträchtigung zu stehen und aus dem, was verblieben ist, Lebensmut und Kraft zu schöpfen ist Not-wendend. Viele Grüße Werner