»Warum Überlebende schweigen« – dieser von Marie-Louise Buschheuer (AlexOffice) aus eigener Erfahrung aufgeschriebene Artikel handelt von Missbrauch und dem Überleben nach Missbrauchserfahrungen. Dabei schildert sie die eigenen Gefühle und beleuchtet die Hintergrundfaktoren, die gegeben sind durch die verhängnisvolle Haltung der Gesellschaft, der sowohl Täter als auch Überlebende angehören. 

Da es sich um sensible Inhalte handelt, setzen wir an dieser Stelle eine ***Triggerwarnung***.


 

Warum Überlebende schweigen

 


 

Immer wieder kommen Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit, oftmals erst Jahre später. Viele fragen sich, warum nicht oder so selten öffentlich über Missbrauch gesprochen wird.

Eine Spurensuche mit eigener Erfahrung.

In diesem Text wird das Wort „Opfer“ durch „Überlebende“ ersetzt, vorrangig geht es um sexuellen Missbrauch, jedoch möchte ich niemanden mit körperlichen, seelischen oder emotionalen Erfahrungen ausschließen. Ich nutze zur besseren Lesbarkeit vorrangig männliche Bezeichnungen, es soll sich aber explizit auf alle Geschlechter beziehen.

 

Dominanz der Gefühle

An dieser Stelle wird es persönlich, denn ich kann explizit natürlich nur von mir sprechen, aber durch Gespräche mit anderen Überlebenden weiß ich, dass viele ähnlich empfinden.

Was passiert mit einem, wenn man missbraucht wird? In welcher Art auch immer. Die meisten sind traumatisiert, kaum einer kann so eine Erfahrung ohne Schaden überstehen. Ein Trauma kann sich durch viele verschiedene Empfindungen manifestieren: Angst vor bestimmten Personengruppen, vor Orten, vor Tätigkeiten, vor… eigentlich vor allem möglichen. Es kann zu Depressionen kommen, zu Selbstmordgedanken, zu Wutanfällen. Jeder Mensch ist hier anders und genauso ist auch die Reaktion auf ein Trauma immer individuell.

Bei vielen kommt noch Scham hinzu. Dieses alles vernichtende Gefühl. Scham ist viel komplexer und vielschichtiger als Angst. Scham tritt immer dann auf, wenn wir befürchten, an Bedeutung zu verlieren, vor allem soziale Bedeutung. Wir fühlen uns zum Beispiel gedemütigt oder bloßgestellt. In der Menschheitsgeschichte ist Scham dafür verantwortlich, den Einzelnen vor Blamage zu schützen und soziale Attraktivität zu verlieren.

Durch Scham wird unsere Wahrnehmung auf unsere eigenen Schwächen gelenkt, man fühlt sich gedemütigt und erniedrigt, der Lächerlichkeit preisgegeben.

Aber warum schämt man sich für etwas, wofür man eigentlich nichts kann? Missbrauchsüberlebende haben nicht versagt, sind nicht verantwortlich für das, was geschehen ist, und doch, es wird genau das geglaubt.

Denn an irgendeiner Stelle haben wir, die Überlebenden, versagt. Sonst wäre das doch gar nicht passiert, und warum ist es ausgerechnet mir passiert?

Dominanz des Täters

Durch Missbrauch entsteht immer ein Machtgefälle, selbst wenn es vorher nicht existiert hat. Durch Missbrauch erlangt der Täter Macht über sein Opfer, er zwingt seinen Willen auf. Der Wille des Überlebenden hat in der Situation keine Bedeutung und wird regelrecht gebrochen.

Alleine dadurch entsteht eine nicht zu unterschätzende Dominanz.

Hinzu kommen oftmals Aussagen wie „Stell dich nicht so an“, „Du willst es doch auch“ oder „Dir wird eh keiner glauben“. Die eigene Wahrnehmung wird einem abgesprochen. Stimmt es vielleicht, was der Täter sagt, will ich es vielleicht doch? Genieße ich es nicht sogar?

Gerade Überlebende von lang anhaltender häuslicher Gewalt oder Missbrauch in der Kindheit sind dem Täter regelrecht ausgeliefert. Er überschreibt das eigene Empfinden, die eigenen Wünsche mit seinen Handlungen und Worten. Oft genug ordnet sich die eigene Persönlichkeit den Wünschen des Täters unter.

Diesen Kreis zu durchbrechen erfordert Mut und Selbstbewusstsein – was viele Täter schaffen, erfolgreich zu unterbinden. Externe Hilfe gibt es selten, denn wie schon oben beschrieben, siegt oft die Scham.

Dominanz der Gesellschaft

Die Gesellschaft, in der wir leben, ist ein nicht zu unterschätzender Faktor. Trotz vieler Aktionen, unter anderem der „Me Too“ Bewegung, ist zwar das öffentliche Bewusstsein für den Missbrauch gestiegen, aber leider ist die Reaktion vieler nicht förderlich.

Gerne wird erwartet, und das auch mit Worten kund getan, dass man „darüber hinwegkommen“ soll. Gerade wenn der Missbrauch schon etliche Jahre zurückliegt. Dies impliziert, dass es ja gar nicht so schlimm gewesen sein kann und dass die Gefühle, auch Jahre später noch, übertrieben sind. Es passiert doch immer wieder, was bringt es zu jammern.

Dass man über Missbrauch nicht einfach hinwegkommen kann, sollte eigentlich klar sein. Es ist etwas, was das Leben ab dem Zeitpunkt des Geschehens immer wieder beeinflussen kann. Egal wie gut man therapiert ist oder wie lange es her ist.

Ein weiterer Aspekt, der vor allem Überlebende von sexuellem Missbrauch beeinträchtigt: Die durch die Gesellschaft herangetragene Mitschuld an dem Übergriff. Fragen wie „Was hast du denn angehabt?“ oder Aussagen wie „Wenn du so auf die Straße gehst, musst du dich nicht wundern!“ geben den Überlebenden immer wieder das Gefühl, dass sie die Tat provoziert hätten.

Fakt: Das ist nicht der Fall! Selbst wenn eine Person nackt über die Straße läuft, hat niemand das Recht, sie zu missbrauchen.

Hat man sich als Überlebende denn doch dazu entschlossen, über seine Erfahrungen zu sprechen, kommt es oftmals nicht nur zu positiven Reaktionen. Ich selber habe schon Aussagen gehört und gelesen, die mehr als beleidigend waren.

Entspricht man nicht dem gängigen Schönheitsideal, wird einem der erfahrene Missbrauch abgesprochen, man wird gefragt, ob es einem gefallen hat oder ob man – bei sexuellem Missbrauch – einen Orgasmus hatte. Alleine diese Fragen sind schon übergriffig. Und verstärken das Gefühl von Scham.

Auch Aussagen, die implizieren, dass man sich das alles nur eingebildet hat, weil die andere Person so etwas noch nie erlebt hat, kommt vor. Ich habe selber einmal eine Nachricht bekommen, die hieß „Ich bin selber eine Frau, mir ist sowas noch nie passiert. So etwas gibt es also nicht.“

Die Gesellschaft übt durch solche Verhaltensweisen und Aussagen einen unglaublichen Druck auf die Überlebenden aus, nimmt ihnen die Stimme und verunglimpft die Erfahrungen.

Fazit

Überlebende von Missbrauch brauchen eine Stimme, denn nur so kann die Gesellschaft sensibilisiert werden. Doch wir müssen den Überlebenden auch zuhören, wir müssen uns den grausamen Erlebnissen stellen. Und wir müssen die Überlebenden stärken, damit sie über intolerante und ignorante Aussagen lachen können. So wie ich es seit einiger Zeit kann.

Ich kann das, weil ich meine Geschichte aufgearbeitet habe, weil ich einen starken, einfühlsamen Partner habe und weiß, dass mich keine Schuld trifft.

Das können nicht alle Überlebende.

Wenn ihr die Erfahrungen und Erlebnisse nicht hören möchtet, ist das voll okay, es ist verständlich. Aber bitte, wertet sie nicht ab, urteilt nicht. Denn nur so können wir weiter unsere Stimme erheben.

Marie-Louise Buschheuer
sternenruferin

Foto (Ausschnitt) von engin akyurt auf Unsplash


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