»Toxische Sätze meiner Kindheit« – immer wieder gehörte Sätze, die ihr Leben negativ beeinflusst, also „vergiftet“ haben – an diese erinnert sich Marie-Louise Buschheuer (AlexOffice) ausführlich in ihrem neuen Artikel. Und sie ruft uns zum Nachdenken darüber auf, was wir solchen Sätzen entgegensetzen können.


 

Toxische Sätze meiner Kindheit

 


 

Jeder kennt sie vermutlich, diese Sätze aus der Kindheit, die einem im Gedächtnis geblieben sind. Oftmals nicht, weil sie einem besonders in der Entwicklung geholfen haben, sondern weil sie im Nachgang betrachtet unglaublich toxisch waren.

In meiner Kindheit bin ich irgendwie zwischen meinen Eltern und meinen Großeltern hin- und hergewandert. Meine Eltern waren ständig arbeiten, sodass ich unter der Woche eigentlich immer bei meinen Großeltern war. Besser wurde es, als das Haus meiner Eltern auf dem gleichen Grundstück stand – oder auch nicht. Das ist hier Sichtweise.

Dieser Kurzausflug in meine Wohnsituation ist wichtig, um zu verstehen, warum meine Großeltern dermaßen in meine Erziehung involviert waren.

Aber nun zum eigentlichen Thema: die „besten“ toxischen Sätze meiner Kindheit!

»Du musst das verstehen, dein Vater hatte eine schwere Kindheit.«

Nun, dieser Satz hat mich in etwa mein gesamtes Leben begleitet. Verstanden habe ich ihn erst als Erwachsene und als ich mich mit der Generation meines Vaters beschäftigt habe. Denn als Kind versteht man solche Zusammenhänge nicht. Und man muss sie auch nicht verstehen. Als Kind habe ich mir nur gewünscht, dass meine Eltern mich lieben und Zeit für mich haben.

Ich wusste nichts über die Kindheit meines Vaters, ich wusste nur, wenn ich irgendetwas sagte oder machte, was ihm nicht gefiel – und ganz ehrlich, das änderte sich zum Teil täglich bis stündlich, was in diese Kategorie fiel – wurde er verletzend oder ging beleidigt weg. Was ich denn wieder falsch gemacht hatte, konnte ich mir selber aussuchen.

Meine Mutter kannte nur den Satz „Du musst das verstehen, dein Vater hatte eine schwere Kindheit.“ Sie entschuldigte jede seiner Handlungen mit diesem Satz. JEDE! Und ich verstand es nicht. Ich war ein Kind. Ich konnte keine Zusammenhänge erkennen, weil sie mir keiner erklärte, ich wusste von der Kindheit meines Vaters nichts, außer, dass sie schwer war.

Als Erwachsene habe ich die wenigen Fragmente, die ich im Laufe der Jahre erfahren habe, zu einem Bild zusammensetzen können. Bücher, Berichte und Dokumentationen anderer Lebensgeschichten, die wie mein Vater Ende der vierziger Jahre in Deutschland geboren wurden, die in den Fünfzigern und Sechzigern Zeit in Kinderheimen und Erziehungsanstalten verbracht haben, brachte mich nah an die Erlebnisse meines Vaters.

Ich begann zu verstehen. Dreißig Jahre, nachdem der Satz meine Kindheit schwer gemacht hat.

»Das macht ein Mädchen nicht.«

Die berühmte Rosa-Blau-Falle war in meiner Kindheit allgegenwärtig. Ich bin zu Beginn der Achtziger Jahre geboren. Es gab den Unterschied zwischen Mädchen und Jungen noch deutlicher in der Erziehung als heute. Für mich war er jedoch ein Paradoxon, denn hier war ich der Spielball zweier Erziehungsmodelle.

So sehr mein Vater manchmal auch unberechenbar und beleidigend, ja verletzend war, so sehr war er der Meinung, es ist egal, ob das ein Mädchen oder ein Junge ist. Das Kind probiert sich aus, ob mit Autos oder Barbies, ob auf Bäume klettern oder Teeparty spielen – laut meinem Vater sollte ich alles ausprobieren. Seine Devise: „Nur ein dreckiges Kind ist ein glückliches Kind“. Und ich war oft genug ein dreckiges Kind.

Wir hatten einen großen Garten, ich kletterte auf Bäume, hatte einen Sandkasten, backte Schlammkuchen und spielte auf der Baustelle meines Elternhauses. Ich hatte schon früh Zugang zu Werkzeug – echtem, nicht dem Kinderspielzeug – und durfte hämmern, schrauben und, unter Aufsicht, sägen. Ich wollte alles austesten. Ich hatte Autos, Lego, Barbies … eigentlich eine bunte Sammlung.

Doch ich hatte auch einen Großvater, der in den Zwanzigern geboren wurde. Und mein Großvater war schwul, meine Oma und meine Mutter waren die Alibi-Familie, die Familie, die ihn davor schützte, erneut krankenhausreif geschlagen zu werden.

Und ähnlich wie meine Mutter, wollte er mich zu einer „feinen Dame“ erziehen. Kletterte ich auf einen Baum, stand er darunter und brüllte: „Komm sofort runter, das macht ein Mädchen nicht.“ Waren meine Klamotten vom Spielen dreckig, bekam ich zu hören: „Du hast dich wieder eingesaut, das macht ein Mädchen nicht.“

Ich habe mehr als einen Streit zwischen meinem Vater und meinem Großvater mitbekommen, darüber, was ich darf und was ich nicht darf. Irgendwann traute ich mich nicht mehr, auf die Bäume zu klettern. Mein Großvater war unglaublich kontrollierend, und ich hatte immer Angst davor, dass er mich bei etwas sieht, was seiner Meinung nach „ein Mädchen nicht macht“.

Denkwürdig ist mir ein Kleidungseinkauf in Erinnerung geblieben. Ich war sechs oder sieben Jahre alt und Oma sagte mir, ich dürfe mir ein Set aussuchen. Wir fuhren nach Adler und ich entdeckte schnell etwas, was mir gefiel: eine schwarze Lederimitathose, eine weiße Rüschenbluse und eine passende schwarze Weste! Ich liebte es!

Eine kleine Randanmerkung: mein Kleidungsstil hat sich seitdem nicht verändert!

Nun, mein Großvater war der Meinung, sowas trägt man als Mädchen nicht, und ich musste mir das rosa Set aussuchen! Ich habe es gehasst.

»Wenn andere von einer Brücke springen, springst du dann auch?«

Ich glaube, diesen Satz kennt jede/r Jugendliche. Zumindest aus meiner Generation. Ob es den heute auch noch gibt, so oder so ähnlich, kann ich nicht sagen. Aber ganz ehrlich: was sollte das?

Natürlich würde ich nicht hinterherspringen, aber das gleichzusetzen mit dem Wunsch nach bestimmten Dingen, ist Äpfel mit Birnen zu vergleichen.

Ein konkretes Beispiel: In meiner Jugend hatten meine Klassenkameraden Eastpack Rucksäcke, ich wollte auch einen. Ich wollte wenigstens ein bisschen dazu gehören, war ich doch schon der Außenseiter. Als ich diese Bitte vorbrachte, bekam ich den oben genannten Satz zu hören. Heute weiß ich, meine Eltern wollten den Rucksack nicht kaufen, weil er so teuer war und man ja davon ausgehen müsste, dass ich den nicht lange tragen würde.

Hätte diese Erklärung mir mehr gebracht? Ich weiß es nicht, aber ich glaube, wenn meine Eltern mir klipp und klar gesagt hätten, der ist zu teuer, hätte ich wenigstens gewusst, warum.

So ging es bei vielen Dingen. Irgendwann konnte ich den Satz runterbeten. Aber ich weiß bis heute nicht, was eigentlich die Bedeutung dahinter ist.

»Gib dem Onkel doch ein Küsschen.« / »Willst du XY nicht in den Arm nehmen?«

Diese oder ähnliche Sätze kennen wohl die meisten Menschen. Und es ist schlimm, richtig schlimm, wenn man das als Kind, gerade als Mädchen, zu hören bekommt. Denn es ist nichts anderes, als das Überschreiten einer Grenze und die Message, dass die eigenen Gefühle, das eigene Unwohlsein an dieser Stelle nicht angebracht ist.

Es wird also erwartet, dass man etwas macht, was man absolut nicht machen möchte. Auch hier waren es meine Großeltern, die diesen Satz wiederholt sagten. Meine Eltern haben mich nie dazu aufgefordert, diese Grenze zu überschreiten. Das soll kein Großeltern-Bashing werden, aber hier ist auch wieder die Generation mit im Spiel.

Spinnt man den Faden weiter, den dieser Satz impliziert, so kommt man schnell zu einer erwachsenen Person, die ihre eigenen Grenzen bezüglich Nähe nicht stecken kann. So ging es mir lange Jahre, bis zu dem Punkt, an dem körperliche Nähe für mich unerträglich wurde. Sie war immer mit einem Zwang belegt, mit einem Gefühl davon, dass mein Gegenüber das Recht hat zu bestimmen, wie weit er/sie geht und nicht ich.

In meinen Augen ist das vielleicht der toxische Satz schlechthin. Denn er ist eine riesige Grenzüberschreitung und ein Signal, dass man nicht selber bestimmen darf, wen man in den Arm nimmt oder wem man einen Kuss gibt. Und das kann schwerwiegende Folgen haben.

»Du bekommst keinen Nachtisch, wenn du den Teller nicht leer isst.«

Oma und Opa, Generation Krieg. Mittagessen war immer eine Qual für mich. Und ich habe, bis ich die Schule beendet habe, jeden Mittag bei meinen Großeltern gegessen.

Und immer hieß es, der Teller müsse leer sein. Entweder mit der Drohung, dass es sonst keinen Nachtisch gebe oder dass das Wetter schlecht würde, wenn der Teller nicht leer sei. Mein Essverhalten hat sehr darunter gelitten. Wahlweise aß ich über meinen Hunger hinaus oder verweigerte das Essen. Ich hab heute noch Probleme damit zu erkennen, wann ich satt bin. Ich glaube, dass mit diesen oder ähnlichen Sätzen ganze Generationen mit Essstörungen herangezogen wurden. Denn zu erkennen, wann ich keine Hunger mehr hatte, wann ich satt war, wurde hier von meiner Großmutter übernommen, durch das Festlegen der Portionsgröße, die ich zu essen hatte.

Resultat des Ganzen: entweder aß ich in meiner Kindheit und Jugend zu viel oder gar nichts. Irgendwann fing ich an, das Essen wieder hervorzubrechen, weil ich das Gefühl nicht mochte, das die Portionsgröße in mir auslöste.

Ich kann mich an keine Zeit in meiner Jugend erinnern, in der ich ein normales Essverhalten hatte. Und der folgende Satz hat da auch nicht geholfen …

»Wenn du so zierlich wärst wie XY, müsstest du nicht so mit anpacken.«

Nachdem ich in die Pubertät kam, ging ich in die Breite. Nicht, dass ich übermäßig dick war. Mein Becken meinte einfach richtig breit zu sein. Meine erste Frauenärztin meinte einmal zu mir: „Wenn Sie mal schwanger werden, hat das Kind es richtig gut, sie haben ein richtig gebärfreudiges Becken.“ Hört man mit 15 sicherlich richtig gerne.

Dieser Satz hat mich zwar auch nachhaltig verstört, aber wesentlich schlimmer war ein Satz, den ich ständig von meinem Vater zu hören bekam. Verglichen mit den Mädchen aus meinem Freundeskreis war ich dick. Ich wog auf 1,59 m knappe 57 kg, war dabei aber relativ fit – im Kugelstoßen holte ich sogar mal kreisweit in meiner Altersklasse eine Medaille.

Aber mein Vater nahm das zum Anlass, mich körperlich mit einzuspannen. Eine Voraberklärung: zeit meines Lebens hat mein Vater ein Nebengewerbe gehabt. In meiner Kindheit und Jugend hat er Steinfiguren erstellt, aus Beton, gedacht für Gärten. In allen Größen und Formen. Da ich also nicht so schlank war wie viele meiner Klassenkameraden, fand er, dass ich auch mit anpacken könnte.

Dass dieser Satz problematisch wurde, versteht sich von selbst. Neben dem fehlenden Satt-Gefühl, bekam ich noch impliziert, dass ich ja selber Schuld sei, so schwer arbeiten zu müssen. Also rannte ich viele Jahre einer Körperform hinterher, die genetisch gar nicht bei mir angelegt war.

Hinzu kamen schon sehr früh Rückenprobleme – hey, ich konnte als Teenager schon Steinfiguren mit mehr als 50 kg problemlos heben.

»Wenn du dich nicht anstrengst, packen wir dich auf die Sonderschule.«

Ein Satz, der während meiner Zeit am Gymnasium über mir schwebte. Angespornt hat er mich nicht. Eher im Gegenteil. Ich wurde in der Schule gemobbt, gefühlt schauten die Lehrer weg, wenn ich angespuckt, beleidigt oder angegangen wurde. Lust zur Schule zu gehen hatte ich irgendwann nicht mehr, ganz im Gegenteil: Magenschmerzen, Depressionen und Angst waren meine täglichen Begleiter.

Dass darunter mein Lernwille und schließlich auch meine Noten gelitten haben, ist kein großes Wunder.

Anspornen sollte mich also die Aussage meiner Eltern. Denn auf Sonderschulen gingen die Dummen, die Behinderten, jene, denen man in den 90ern des vergangenen Jahrhunderts keine lohnende Zukunft zuschrieb.

Das Gewünschte wurde damit nicht erreicht. Eher das Gegenteil, denn ich fühlte mich dadurch herabgesetzt, hatte das Gefühl, dumm zu sein, nichts wert zu sein. Denn warum sollten meine Eltern mich sonst auf eine Sonderschule packen wollen? Also wurde dadurch die Angst und die Depression noch verstärkt.

»Du musst da drüber stehen.«

Wie ein Absatz vorher schon erwähnt, wurde ich in der Schulzeit schwer gemobbt. Wollte ich mit meinen Eltern darüber sprechen, dann bekam ich oftmals zu hören, ich solle doch darüber stehen.

Darüber stehen, während man jeden Tag beleidigt, bespuckt oder angegangen wird, funktioniert nicht. Ich hatte keine Abwehrmechanismen für die tägliche Qual und bekam immer mehr das Gefühl, meine Eltern interessiert es nicht.

Dieser eine Satz gab mir immer wieder das Gefühl, dass sie eigentlich gar nicht so genau wissen wollten, was mit mir los war. Sie taten es ab.

Also musste es doch an mir liegen, dass es so schwer für mich war. Ich traute mir immer weniger zu und vertraute meinen Eltern immer weniger, denn ich musste ja darüber stehen. Das konnte ich nicht, also war ich nicht gut genug, nicht schlau genug, nicht taff genug.

Dieser Gedanke hat mich lange begleitet und auch heute noch kommt er immer wieder durch. Allerdings habe ich mittlerweile mehr als genug Gegenbeweise für all das. Dennoch hat es mein Leben gewaltig erschwert.

 

Wie schaut es bei euch aus? Was sind Sätze, die ihr als besonders toxisch in Erinnerung habt? Habt ihr es mittlerweile geschafft, diesen etwas entgegenzusetzen?


Marie-Louise Buschheuer
sternenruferin

Foto (Ausschnitt) von Beth Jnr auf Unsplash


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