Ein Gedicht von Cornelia Schmitz (AlexOffice) über bipolare Blicke in einen Spiegel und in sich selbst, über Erkennen und Wunder. Lyrik ist nicht nur eine literarische Gattung sondern auch Ventil und Erleben. 


 

Ich sehe was, was du nicht siehst

Ich sehe in den Spiegel und schaue mich an:

Ein Monstrum.
Monströser als ein Monster, das Urbild des Monströsen.
Ein Ding, das der Teufel aus der Hölle jagt.
Vielleicht etwas aus dem Raum außer uns?
Eine Taubheit, eine Leere, ein Frösteln?
Das Ding ist hässlich, natürlich, es ist der Hass, es hasst sich, wie es sich selbst sieht, da im Spiegel.

Ich sehe in den Spiegel und beäuge:

Wie sieht das Ding aus im Verhältnis zu den anderen Dingern?
Welche anderen Dinger?
Die anderen, das sind Menschen, nur ich, ich bin ein Ding.
Ein Ding aus der Hölle oder aus dem Raum außer uns.

Ich sehe in den Spiegel und betrachte:

Wie sehe ich aus? Was habe ich an? Gefalle ich?
Ich will gefallen,
unbedingt
aber ich bin ein Ding aus der…

Ich sehe in den Spiegel und registriere:

Die Farben, in die ich gekleidet bin, kleiden mich
Die Stücke, die ich trage, sind nicht zusammengestückelt.

Ich sehe in den Spiegel und stelle fest:

Nur ich sehe das Monstrum.
Die Farben kleiden mich, die Stücke sind nicht gestückelt, das stelle ich fest.
Niemand außer mir sieht das hässliche Ding.
Niemand außer mir sieht, dass ich nur ein Ding bin.

Ich sehe in den Spiegel und erkenne:
Das Ding, das sich sieht, sieht sich gänzlich ohne Liebe an.

——

Ich sehe in den Spiegel und schaue mich an:

Ein Wunder.
Wunderbarer als ein Wunder, das Urbild des Wunderbaren.
Ein Mensch, den Gott im Himmel erschaffen hat, nachdem er das All erschuf, er erschuf mich an einem Sonntag, nachdem er geruht hatte.
Der Mensch ist schön, natürlich, er ist die Liebe, er liebt sich selbst, wie er sich sieht, da im Spiegel

Ich sehe in den Spiegel und beäuge:

Bin ich das Vorbild für all die anderen, die ich sehe?
Welche anderen?
Die anderen, das sind Menschen, aber ich, ich bin ein Wunder.
Ein Wunder, das Gott an einem Sonntag erschaffen hat, nachdem er ruhte.

Ich sehe in den Spiegel und betrachte:

Wie sehe ich aus? Was habe ich an? Gefalle ich?
Wie könnte ich nicht gefallen?
Gott schuf mich an einem Sonntag, nachdem er…

Ich sehe in den Spiegel und registriere:

Die Farben, in die ich gekleidet bin, kleiden mich
Die Stücke, die ich trage, sind nicht zusammengestückelt.

Ich sehe in den Spiegel und erkenne

Der Mensch, der sich sieht, sieht sich voller Liebe an

Ich sehe in den Spiegel und stelle fest

Nur ich sehe das Wunder.
Die Farben kleiden mich, die Stücke sind nicht gestückelt, das stelle ich fest.
Doch niemand außer mir sieht das Wunder.
Niemand außer mir sieht, dass ich der Mensch vom Sonntag bin.

Ich sehe in den Spiegel und stelle fest

Nur ich sehe das Wunder.
Und nur ich sehe das Monster.

Die anderen sehen:
Die Farben kleiden mich, die Stücke sind nicht gestückelt.
Ich sehe was, aber was sehe ich?
Ich sehe das, was du nicht siehst.

Ein Gedicht von Cornelia Schmitz

Bild von Alexa auf Pixabay 


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