Wahn und Wirklichkeit im Jahr 2480 – Ein Beitrag über Diskordier und den Rat der Entrückten von Cornelia Schmitz

 

Wahn und Wirklichkeit im Jahr 2480

Im Jahr 2480 gibt es auf der Welt keinen Hunger, keine Kriege und keine Umweltzerstörung mehr. Auch der Klimawandel hatte, dank intensiver Zusammenarbeit und der Lenkung durch den Rat, längst nicht die dramatischen Folgen wie erwartet. Nationalstaaten oder nationale Regierungen sind abgeschafft: Die Erde – vielleicht sollte man besser sagen: Das ALL – wird gelenkt durch die UNO.

Wichtigstes Gremium und Zentralorgan der UNO ist allerdings nicht mehr der Sicherheitsrat, sondern der sogenannte „Rat der Entrückten“, der sich erstmals an einem Rosenmontag im Jahr 2333 konstituierte und seinen Sitz in Köln hat.

In den Rat der Entrückten werden nur Menschen berufen, die das haben, was man noch im Jahr 2000 eine schwere psychische Erkrankung nannte. Das bedeutet: Einzig Psychotiker, also Menschen mit der Fähigkeit zur Wahnbildung, können Mitglieder des Rates werden. Damit liegt das Schicksal der Menschheit nun in den Händen derer, denen man noch rund 500 Jahre zuvor kaum mehr zutraute, als selbständig ein Ei zu kochen.

Eine erstaunliche Entwicklung

Wie kam es dazu?

Noch zu Beginn des dritten Jahrtausend war das Image der „psychisch Kranken“ äußerst negativ, genau wie in all den Jahren zuvor. In den ersten 30, 40 Jahren des dritten Jahrtausends nahmen die psychiatrischen Diagnosen jedoch schlagartig und in einem nie gekannten Ausmaß zu. Deswegen setzte man alles daran, die Menschheit nun endlich von dieser – so nannte man es damals – „Geißel der Menschheit“ zu befreien. Wie seinerzeit üblich, versuchte man zunächst „biologische“ Ursachen zu finden, (das klingt heutzutage natürlich absurd, war aber damals gängige Lehrmeinung), jedoch fand man trotz verbissenster Anstrengung – (Entschlüsselung des menschlichen Genoms, präzise Kenntnis des Gehirns, präzise Kenntnis des Stoffwechsels, präzise Kenntnis überhaupt jedes einzelnen Körpermoleküls) – keine organische Ursache des Wahnsinns.

Daher gewann vorübergehend die sogenannte „Psychotherapie“ wieder an Boden; in ellenlangen Gesprächen drehte man jeden Stein in der Kindheit der Patienten um, um genau das zu kurieren, was wir heute als so wichtig für die Zukunft der Menschheit betrachten. Dennoch, auch wenn die „Psychotherapie“ im Sinn der „Heilung“ eingesetzt wurde, so gewann man damit immerhin Einblicke in die Erlebens- und Vorstellungswelt der Entrückten. Ebenso häuften sich mit der Zeit die Erzählungen, Stimmungsbilder, die künstlerischen Arbeiten, überhaupt die Beiträge der „psychisch Kranken“ zum Thema. Ganz allmählich setzte ein Sinneswandel ein: Über die Frage nach dem Sinn des Wahnsinns sprach man zunächst noch von einer kreativen, wenn auch falschen Bewältigungsstragegie, dann neutraler von einer ungewöhnlichen Lösung, schließlich von Lösungen für komplexe Probleme. Man erkannte und schätzte mehr und mehr das Gewicht und die Macht des Irrationalen, der Phantasie, sowie die spirituellen Antennen, die außergewöhnliche Sensivität und die egalisierenden Qualitäten der Psychotiker, deren Fähigkeit, sich in ganz außergewöhnlichen Denksystemen aufzuhalten, die für den Normalmenschen bar jeder Logik schienen, die Nutzung von Hirnarealen und Strategien, die für alle „Verrückten“  immer schon selbstverständlich waren, die sich der normale Bürger aber selbst heutzutage immer noch mühsam antrainieren muss. Und zuguterletzt begriff man, dass die ungewöhnlichen Qualitäten und Fähigkeiten der vormals „psychisch Kranken“ für die Lösung der Menschheitsprobleme nicht nur unverzichtbar, sondern sogar ausschlaggebend waren. Nur durch Entrückung – so wurde klar – konnte man die volle Komplexität des ALLen durchdringen und fruchtbar machen. Natürlich wurde  diese Entwicklung auch dadurch begünstigt, dass die „Vernunft“ als oberstes Erkenntnisvermögen im Sinne der Aufklärung bei der Bewältigung der Menschheitsprobleme so völlig versagt hatte. Jedenfalls stellte man schlussendlich  die revolutionäre Frage: Ist der Wahnsinn wirklich „krank“? dies eine Frage, welche, wie man heute weiß, die sogenannte „zweite cartesianische Wende“ einleitete.

Doch zurück zum Rat der Entrückten.

Der Rat der Entrückten

Er ist anteilig besetzt mit Schizophrenen, Bipolaren und Unipolaren; Autisten und Epileptiker sind Mitglieder ohne Stimmrecht, Süchtige haben beratende Funktion (und natürlich vor allem den Auftrag, Produktion, Vertrieb und Konsum von Genußmitteln aller Art sicher zu stellen).

Wichtigste Aufgabe des Rates ist es, das Universum weiterzudenken, also den Plan des Universums zu entwickeln und damit das richtige Ur-Ende, in der Folge den nächsten Urknall und den nächsten Plan vorzubereiten. Das lösen alle gemeinsam. Weitere Pflichten sind:

  • Kontakt mit außerirdischen Zivilisationen pflegen (Domäne der Schizophrenen, vor allem der Stimmenhörer.  Es hält sich übrigens hartnäckig das Gerücht, dass auch früher schon als Prinzen verkleidete Aliens im Kölner Rosenmontagszug mitgefahren sind, doch darüber schweigen die Entrückten).
  • Balance in der Welt aufrechterhalten (Maniker und Depressive im Wechsel und in Zusammenarbeit mit Epileptikern).
  • Chancen und Freude  erkennen und  betonen (Maniker in Kooperation mit Süchtigen).
  • Systeme erhalten oder erfinden (enge Zusammenarbeit mit Autisten).
  • Gefahren wahrnehmen und davor warnen

(Vornehmstes Amt der Depressiven. In der entspannten Welt unserer Tage ist es logischerweise schwierig, genügend Depressive für den Rat zu finden, doch dafür ist der Inhalt der Depression um so ärger: Es geht immer um die Angst vor dem falschen „Ur-ende“, d.h. die Depressiven unserer Zeit ängstigen sich, dass es zu einem „Big Whimper“ anstatt zu einem „Big Crunch“ kommen könnte – also zu einem langsamen Tod des Universums in Dunkel und Kälte, und nicht zu Anfang und Ende des Alls, wie es immer war und immer sein wird. Und die stereotype Reaktion der Maniker:  „Et hätt noch immer jootjejange“ [kölsches Motto: „Es kommt immer alles ins Lot“] ist da wenig hilfreich, denn die Depressiven  kontern sofort mit „Wat fott iss, iss fott“ [kölsches Motto:  „Was zerstört wurde, kommt nicht wieder“]).

Selbstverständlich haben die „psychisch Kranken“ auch früher alle diese Aufgaben wahrgenommen, jedoch war ihre Aufgabe (und auch ihr eigenes Leben) durch die falsche Wahrnehmung des Phänomens und die „Behandlungsmethoden“ der früheren Jahrtausende ungleich schwerer.  Selbstverständlich war den Entrückten das Gemeinwohl der Menschheit IMMER wichtiger als ihr persönliches Schicksal, und sie wussten ja auch (oder ahnten zumindest), dass alle Menschen unzählige Leben hatten, haben und haben werden, aber trotzdem ist es natürlich für die Entrückten heutzutage schöner, nicht mehr auf das persönliche Glück verzichten zu müssen.

Sitz des Rates der Entrückten ist, wie gesagt, Köln, wodurch die alte Hansestadt wieder eine führende Rolle unter den Metropolen der Welt einnahm.

Gründe für die Ortswahl waren:

– die weisheitliche, liebenswerte und wegweisende Mentalität der Stadt; man denke z.B. an kölsche Motti wie: „Jeder Jeck iss anders“, „Jeck, loss Jeck elans“, oder, absolut unübertroffen: „Wenn de jeck weeß, fängt et em Kopp aan“.

– der Kölner Karneval. Nähere Erklärungen würden den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, aber man muss sich ja nur allein die Symbolik der Zahl 11 vor Augen führen, die u.a. die Gleichheit aller Menschen unter der Narrenkappe versinnbildlicht; sozusagen eins neben eins.

Sitz des Rats ist die Vincent-van-Gogh Straße (ehemals Hohe Straße), das Rats-Emblem ist ein abgeschnittenes Ohr, und die Hymne des Rats und damit der ganzen Welt ist, wie könnte es anders sein, das schöne alte Kölner Lied: Dreimal Null ist Null ist Null, das auf den Dadaismus verweist.

Die „Arbeit“ des Rates

darf man sich nicht so vorstellen, dass deren Mitglieder Aktenberge wälzen, Symposien veranstalten und zeitraubende Diskussionen führen – im Gegenteil, die Entrückten lassen sich gehen, sie lassen ihre Gedanken und Gefühle von der Leine, sie träumen, sie wandern, sie sprechen mit ihren Stimmen usw, kurz: sie machen immer, wonach ihnen gerade der Sinn steht.

Manche lassen sich gelegentlich fixieren; im stillen Gedenken an frühere Entrückte und um die Gedanken besser spazierengehen zu lassen, mit Vergnügen wenden sie auch die „Elektrokrampftherapie“ an, wobei hier der Strom natürlich nicht durch den Kopf(!) fließt, sondern durch die Waden – im Verbund mit heißkalten Bädern – (also Wadenwickeln) – kommt es hier immer wieder zu den schönsten Spontanerleuchtungen und im Gefolge daran zu Spontanumzügen, an denen das Volk große Freude hat. (Beliebtes Kostüm für den Kölner Rosenmontagszug ist übrigens immer noch der uralte Hit: „Psychiater“, allein schon wegen der sparsamen Ausstattung: Hornbrille, Kittel und geistesabwesender Blick reichen. Aber Vorsicht: Als „Psychiater“ kommt man zwar naturgemäß schnell ins Gespräch […ich hab da mal ein Problem], doch gerade Entrückte machen sich einen diebischen Spaß daraus, dem Psychiater den sprichwörtlichen Knopf an die Backe zu labern – ohne den entsprechenden Nachschub an Kölsch, versteht sich […ich hab da nämlich noch so ne Suchtproblematik]).

Diskordier – Wahn und Wirklichkeit

Im Jahr 2480 gibt es selbstverständlich keine Religionsstreitigkeiten mehr; zwanglos hat sich  jedoch überwiegend die Religion des Diskordianismus (2) etabliert. Philosophen unserer Tage können sich endlos in den Haaren liegen, ob nun der Diskordianismus ein komplizierter Witz ist, getarnt als Religion, oder eine Religion, getarnt als komplizierter Witz. Früh schon hieß es jedenfalls: „Diskordianismus ist nicht nur eine Religion; es ist eine Geisteskrankheit“. Wie auch immer, entsprechende Debatten unter den Gelehrten werden schließlich fast immer mit folgendem Zitat beendet: „Diskordier schwimmen nicht gegen den Strom, sie klettern aus dem Fluss!“, woraufhin sich die Versammlung ins nächste Brauhaus begibt und aufhört, über alles nachzudenken. (Außerdem – wo könnte man das diskordianische Motto „Alles ist Chaos“ besser ausleben als in einem Brauhaus?)

…und ob es im Jahr 2480 noch so etwas wie psychische Krankheit gibt? Der Gedanke ist natürlich albern, doch es gibt tatsächlich auch heutzutage noch Leute, die Angst vor Entrückung haben, als ob nicht ein gelegentliches  „den Verstand verlieren“ das Schönste sei, was einem passieren könne. Diese, tja, atavistische Angst legt sich meistens durch Auskitzeln, Champagner-Schaumbäder mit viereckigen Schaumblasen oder Tortenschlachten mit Torten aus Weichgummi. In schweren Fällen, allerdings, zahlt die Krankenkasse  sogar einen Aufenthalt zum Karneval in Rio de Janeiro. Davon kehren zuverlässig die Meisten vollkommen entrückt wieder – falls sie überhaupt zurückkommen, natürlich.

 

(1) Zitat von Lord Omar Khayyam Ravenhurst, einem der Begründer des Diskordianismus
(2) Den Diskordianismus gibt es wirklich (gibt es ihn wirklich?): Siehe  Wikipedia

 


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