Anhand eines Beispiels aus ihrem eigenen Leben schildert Marie-Louise Buschheuer (AlexOffice) in ihrem Artikel »Ein Wort als Stigmatisierung«, wie ein Wort aus dem normalen Sprachgebrauch – oder auch, wie in Marie-Louises Beispiel, der Name „Fröbel“ – mit etwas Negativem besetzt wird und als Schimpfwort zur Ausgrenzung von Menschen mit Beeinträchtigungen beiträgt.
Ein Wort als Stigmatisierung
Wie entsteht eigentlich ein Wort als Stigmatisierung? Wodurch wird es eigentlich schmerzhaft? Das Wort Behinderung kann vieles bedeuten. Für die Meisten ist es einfach ein Wort, das ausdrückt, dass der Mensch etwas nicht kann. Er oder sie ist also behindert. In der Bewegung, im Geiste, in der Psyche. Für andere Menschen ist es eine Beleidigung.
(Ich verwende das Wort Behinderung als Ausdruck für Erkrankung, Beeinträchtigung, nicht als Stigmatisierung. Bitte beachte das beim Lesen dieses Textes.)
Doch wie entsteht eigentlich so eine Beleidigung? Wie wird aus einem eigentlich alltäglichen Wort etwas, was negativ behaftet ist?
Ein Beispiel aus meinem Leben. Ich hole an dieser Stelle etwas aus, damit sich der Kreis am Ende des Beitrags schließt.
Friedrich Fröbel
Friedrich Fröbel war ein deutscher Pädagoge, der von 1782 bis 1852 lebte und sich besonders im Bereich der frühkindlichen Pädagogik einen Namen gemacht hat. Die moderne Art des Kindergartens, die heute so alltäglich ist, ist zum großen Teil auf ihn zurückzuführen. So ist sein Geburtstag auch heute noch der Tag der Kindergärten in vielen Ländern dieser Welt.
Seine Ideen und Forschungen sind heute noch Bestandteil vieler frühkindlicher pädagogischer Arbeiten und legen den Grundstein für die heutige Pädagogik.
Friedrich Fröbel hat die Ganzheit des Kindes und der Erziehung erfasst. Lieder, Beschäftigungen und Spielaufgaben fördern das Kind und sind ein wichtiges Zusammenspiel in der Erziehung.
Dieser Mann hat also viel für die heutige pädagogische Arbeit getan und ist damit ein wichtiger Mensch in diesem Bereich..
Meine eigene Jugend
Ich bin in einem kleinen Ort in der Nähe von Köln aufgewachsen und bin in einem Ortsteil von Dormagen auf ein Gymnasium gegangen. So weit, so unspektakulär.
Spektakulär wird es erst, wenn man weiß, dass es in Dormagen eine Schule für lernbehinderte Kinder und Jugendliche gibt, bereits seit 1960. Sie hieß bis 2002 Fröbelschule.
Mittlerweile heißt sie anders, und das genau aus dem Grund, den ich hier versuche zu erarbeiten.
An dieser Schule werden also behinderte, vor allem lernbehinderte Kinder unterrichtet. Sie erhalten spezielle Förderung und sollen so einen Schulabschluss und Wissen erhalten. Je nach Behinderung ist eine inklusive Schule nicht möglich und nur eine so genannte Sonderschule kann den Bedürfnissen gerecht werden.
Nun gab es also da diese Sonderschule, die nach Friedrich Fröbel benannt wurde. Was passierte also?
„Du bist voll der Fröbel!“
Die meisten Kinder und Jugendlichen wussten natürlich um diese Schule. Gerne wurde auch in den Elternhäusern damit gedroht, wenn man sich in der Schule nicht anstrenge. Völlig normal war für einige der Satz „Wenn du dich nicht anstrengst, kommst du auf die Sonderschule.“
Und auf die Sonderschule, auf die Fröbelschule gingen nur Kinder, die ja eh zu nichts zu gebrauchen waren. Sie waren behindert, langsam im Denken, konnten nichts und überhaupt – mit denen gab man sich ja nicht ab. Kinder sind grausam, das kennen die Meisten.
Nun etablierte sich in Dormagen und Umgebung das Wort Fröbel als Beleidigung. Denn Behinderung, nicht ausreichend zu sein oder anders zu sein, bedeutete, man ging auf die Fröbelschule.
Aus dem wertvollen pädagogischen Menschen wurde eine Beleidigung, die ins Mark traf. Wer als Fröbel betitelt wurde, war nichts wert, war Außenseiter und Abschaum.
Entstehung von Stigmatisierung
Was an einem Wort so leicht zu erklären ist, ist symbolisch der Ablauf, wie es zu Stigmatisierung kommt. Wörter aus dem normalen Sprachgebrauch werden mit etwas in Verbindung gebracht, was in unseren Augen weniger Wert ist oder einen, im negativen Sinne, besonders macht.
Da sind Menschen, die aufgrund einer Behinderung mehr Aufmerksamkeit, mehr Zuwendung, mehr Hilfe brauchen. Und diese Menschen sind dann vielleicht nicht so leistungsstark wie man selbst. Daher wird ein Begriff gesucht, der uns, die Besseren, von den Anderen, den Schlechten, unterscheidet.
Stigmatisierung entsteht durch Ausgrenzung, immer begleitet von Worten. Sei es nun Behinderung, Fröbel, Ballaballa oder Ähnliches. Wir verbinden negative Informationen mit diesen Worten, da wir es so gelernt haben. Aber eigentlich sind es nur ganz normale Worte.
Ob Friedrich Fröbel das gewollt hätte?
Nachwort
Der Schulausschuss der Stadt Dormagen hat im Jahr 2002 einen Namenswechsel aus den hier erzählten Gründen beschlossen. Bekannt war mir das bis zu den Recherchen für diesen Beitrag nicht. Ich habe 2001 das Gymnasium in Dormagen verlassen und hoffe, dass sich in den letzten 20 Jahren der Begriff Fröbel als Beleidigung erledigt hat. Die Schule heißt mittlerweile, auch aufgrund ihres Umzuges, „Schule am Chorbusch“. Hoffentlich lässt sich daraus keine Beleidigung ableiten…
Ein Artikel aus dem Archiv der Neuss Grevenbroicher Zeitung geht darauf noch einmal ein: „Mit neuem Namen Beleidigung vermeiden“
Na, und wem von euch ist aufgefallen, dass die flauschige kleine Katze im Bild behindert ist?
Marie-Louise Buschheuer
sternenruferin
Foto (Ausschnitt) von Burkhard Lüling auf Pixabay
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Liebe Marie:
Man sollte nicht an Worten herumdoktern, sondern am Sachverhalt.
Nicht die Sprache konstruiert den Sachverhalt, sondern es ist genau umgekehrt: Der Sachverhalt konstruiert die Sprache.
Das lässt sich an folgendem Beispiel veranschaulichen:
Der Begriff „Idiot“ war früher – vor langer Zeit – ein gängiger Ausdruck für einen psychisch Kranken (so wie heutzutage eben „psychisch krank“), bis er dann zum Schimpfwort wurde.
Mittlerweile ist der Begriff „krank“ oder „psychisch krank“ oder auch „behindert“ selbst schon ein Schimpfwort.
Dies wird auch mit Bezeichnungen wie „beeinträchtigt“ oder „anders begabt“, oder wie immer man eine Behinderung noch titulieren mag, geschehen, weil der Sachverhalt – nämlich Behinderung; vor allem geistige oder psychische Behinderung – in der Bevölkerung stark abgelehnt wird.
Man nennt so etwas auch die Euphemismusfalle: Etwas soll schön geredet werden, genau das gelingt aber nicht.
Anstatt also ständig neue Begriffe einzuführen oder alles Mögliche immer wieder umzubenennen, sollte man lieber daran arbeiten, Vorurteile gegen psychisch Kranke oder Behinderte abzubauen.
Unter anderem deswegen bin ich auch so stark gegen das Gendern: Man kann nicht alles in der Sprache abbilden, das überfrachtet sie. Sprache ist nur ein Werkzeug, ein Zeichengebilde.