Marie-Louise Buschheuer (AlexOffice) nimmt in ihrem aktuellen Artikel die UN Behindertenrechtskonvention unter die Lupe und beleuchtet kritisch deren Umsetzung im tatsächlichen Leben behinderter Menschen in Deutschland. Ihr Fazit: Diskriminierung herrscht immer noch vor und Inklusion ist weiterhin ein Fremdwort. Marie-Louises Bewertung lautet daher: »Sechs setzen«. 


 

»Sechs setzen« – Deutschland und die UN Behindertenrechtskonvention

 


 

Im Jahr 2009 hat Deutschland die UN Behindertenrechtskonventionen ratifiziert. Das heißt, Deutschland hat diese Konventionen formal anerkannt und sozusagen einen Vertrag unterschrieben, um die Vorgaben zu erfüllen und umzusetzen.

Im Jahr 2023 hat die UN die Umsetzung in Deutschland überprüft, 14 Jahre nachdem Deutschland versprochen hat, die Vorgaben umzusetzen.

Und was ist dabei rausgekommen? Wäre Deutschland ein Schüler an einer Schule, hätte er für diese Arbeit eine Sechs bekommen.

Die UN Behindertenrechtskonvention

Wer sich mit dem Thema befassen will, kommt um Gesetzestexte nicht herum. Zum Glück gibt es das alles in gut verständlichen, zusammengefassten Texten (dank der EU). Hier also einmal ein grober Überblick.

Mit dieser Strategie soll sichergestellt werden, dass alle Menschen mit Behinderungen in Europa ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder Weltanschauung, ihres Alters oder ihrer sexuellen Ausrichtung

  • ihre Menschenrechte wahrnehmen können,
  • Chancengleichheit sowie gleichberechtigten Zugang zur Teilhabe am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben genießen,
  • frei entscheiden können, wo, wie und mit wem sie leben,
  • sich unabhängig von ihrem Unterstützungsbedarf frei in der EU bewegen können
  • und keinerlei Diskriminierung mehr erfahren.

Die neue Strategie umfasst daher ein ehrgeiziges Bündel von Maßnahmen und Leitinitiativen in verschiedenen Bereichen und hat zahlreiche Prioritäten, wie:

  • Barrierefreiheit: sich frei bewegen und aufhalten, aber auch am demokratischen Prozess teilnehmen zu können,
  • ein unabhängiges Leben mit guter Lebensqualität zu gewährleisten, da der Schwerpunkt vor allem auf dem Prozess der Deinstitutionalisierung, dem Sozialschutz und der Nichtdiskriminierung am Arbeitsplatz liegt,
  • eine gleichberechtigte Teilhabe zu gewährleisten, da die Strategie Menschen mit Behinderungen wirksam vor jeglicher Form von Diskriminierung und Gewalt schützen, Chancengleichheit und gleichberechtigten Zugang zu Justiz, Bildung, Kultur, Sport und Tourismus sicherstellen, aber auch einen gleichberechtigten Zugang zu allen Gesundheitsdiensten gewährleisten soll,
  • die Vorreiterrolle der EU zu bekräftigen,
  • den Umsetzungswillen der EU aufzuzeigen,
  • die Rechte von Menschen mit Behinderungen weltweit zu fördern.

[¹]

Grob übersetzt heißt das: mehr Inklusion, weniger Behindertenwerkstätten, weniger Sonderschulen, mehr Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung – sei es im Berufsleben, in der Entwicklung, der Förderung, dem Alltag.

Einige der UN Mitgliedsstaaten haben in den letzten Jahren viel Geld in Inklusion gesteckt, nähern sich den Zielen, die die Behindertenrechtskonvention vorgibt, mit großen Schritten oder haben sie schon teilweise erreicht.

Deutschland ist hier Klassenletzter. Doch, warum?

Die Probleme in Deutschland

Über die Webseite News4Teacher bin ich erst darauf aufmerksam geworden, dass in Deutschland die Überprüfung der Regularien anstand.

Ein Blick in diesen aber auch in diverse andere Artikel (die ihr weiter unten alle verlinkt findet) zeigt folgende Probleme:

Deutschland hat ein hochentwickeltes System von Sonderstrukturen

Die Sonderstrukturen in Deutschland haben sich über Jahrzehnte entwickelt und gemeint sind damit zum Beispiel Sonderschulen, Werkstätten für Menschen mit Behinderung, Wohnheime oder Wohngruppen.

Im Extremfall heißt das, dass ein Mensch mit Behinderung niemals an einem „normalen“ gesellschaftlichen Leben teilnehmen muss – er wandert von einer Einrichtung in die Nächste. Von Sonderschule in Wohnheim in Werkstatt.

Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Inklusion in Schulen in Deutschland in den vergangenen Jahren zahlenmäßig rückläufig ist. Dafür werden immer mehr Sonderschulen eröffnet.

Kinder mit Behinderung sollen, laut UN Konvention, an Regelschulen unterrichtet werden. Dafür ist besonders geschultes Personal nötig – Lernbegleiter, Lehrer, Alltagshelfer. In Zeiten, in denen der Lehrerberuf immer weniger Respekt erlebt, leiden Schulen stark an Personalmangel. So ist eine Inklusion nur schwer möglich.

Kinder schon zu Beginn ihres Lebens aus der Gesellschaft herauszunehmen, auszusondern „[…] ist nicht nur kostspielig, sondern auch diskriminierend […]“, so die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehen Maike Finnern.

Doch mit der Schule ist in diesem Fall ja noch nicht Schluss: Sonderschulen bieten keinen adäquaten Abschluss. Eine klassische Ausbildung oder gar ein Studium sind damit nicht möglich.

Oftmals bleibt nur der Weg in die Behindertenwerkstatt.

Hier haben sich die Zahlen in den letzten beiden Jahren nur wenig verändert: 2022 waren 310.00 Menschen in einer Werkstatt beschäftigt, 2021 waren es noch 320.000. [²]

Maike Finnern findet auch hier klare Worte: „Die Inklusion ist nicht gescheitert: Sie wird politisch an die Wand gefahren.“

Politik wird nicht inklusiv betrieben

Sarah Buddenberg, inklusionspolitische Sprecherin findet deutliche Worte: „Deutschland ist weit entfernt von einer inklusiven Gesellschaft. Weiter wird eine Politik betrieben, die nur in Teilen oder gar nicht den Maßgaben der UN-Behindertenrechtskonvention entspricht.“

Konkret geht es ihr um selbstständiges Wohnen, barrierefreien Nahverkehr, öffentlicher Raum, der für Behinderte leicht zugänglich ist und vor allem die Möglichkeit auf ein selbstbestimmtes Leben. Denn die Selbstbestimmungsrechte stoßen in Deutschland an strukturelle Grenzen.

Vieles ist in Deutschland Ländersache und die Gesetze müssen auch auf kommunaler Ebene gelten. Ein Beispiel ist hier das Land Sachsen: es ist das einzige Bundesland, in dem das Inklusionsgesetz auf kommunaler Ebene nicht gilt.

Die Politik legt der Inklusion also bewusst Steine in den Weg.

Eine immer wiederkehrende Forderung nach strengeren Vorgaben auch im privaten Sektor: Beim Neubau von Mietwohnungen sollen diese barrierefrei errichtet werden. Auch mehr Barrierefreiheit im Gesundheitssektor wird gefordert.

Hier geht es nicht nur um räumliche Barrierefreiheit, sondern es geht auch darum, dass Behinderte Wahlmöglichkeiten haben. Sei es die Wahl eigenständig zu Wohnen oder freie Berufswahl – für viele Menschen mit Behinderung gibt es in diesen Bereichen keine freie Entfaltungsmöglichkeit.

Der Gedanke der Barrierefreiheit darf keinen Sonderstatus mehr haben, sondern muss zur Alltäglichkeit werden.

Diskriminierung ist noch allgegenwärtig

Dass Diskriminierung nicht nur People of Color betrifft, ist mittlerweile bekannt. Und doch wird gerne übersehen, dass es auch Menschen mit Behinderung betrifft.

Noch immer findet abwertendes Verhalten gegenüber Behinderten im Alltag statt – sei es in Schulen, in Betrieben des allgemeinen Arbeitsmarktes oder im täglichen Miteinander.

Es fängt bei den oben schon erwähnten Themen wie Sonderschule, Wohnraum und Politik an und zieht sich durch die gesamte Gesellschaft.

Behinderungen sind durch die Exklusion immer noch ein seltener Anblick im deutschen Alltag. Daher kommt es auch immer wieder zu diskriminierenden Erfahrungen.

Bericht des UN-Ausschusses

Vermutlich Ende September wird der UN-Ausschuss seine abschließenden Bemerkungen zur Prüfung in Deutschland veröffentlichen. Diese Bemerkungen werden klar benennen, in welchen Bereichen Deutschland die UN-Behindertenrechtskonventionen besser umsetzen muss.

Dann heißt es warten, dass Deutschland dies auch zügig umsetzt.


Ein abschließendes Zitat von Sarah Buddenberg:
„Denn Inklusion ist keine Gefälligkeit oder ein „Ideologieprojekt“, sondern international geltendes Menschenrecht.“


Quellen


Marie-Louise Buschheuer –
sternenruferin

Foto (Ausschnitt) von Tim Mossholder auf Unsplash


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