Die Pissrinne für Männer in der Kölner Kneipe „Weißer Holunder“ hat Cornelia Schmitz (AlexOffice) zum Schreiben ihres Artikels »Über das Pissen« bewegt. Es geht laut ihren eigenen Worten „um den kleinen Unterschied, der sich auch in einer ganz bestimmten Situation bemerkbar macht…:)“. Lest selbst.


 

Über das Pissen

Wir standen im Holunder zusammen und redeten über dies und das. Rainer entschuldigte sich, ging austreten und kehrte ein Weilchen später zurück. „Mädels“, sagte er breitbeinig grinsend zu meiner Freundin und mir, „Ihr wißt ja gar nicht, was Ihr alles verpasst! Also die Pissrinne hier, ich find se ja immer wieder gut. Was da alles so passiert, also, ich find’s ja immer wieder gut.“

Ich starrte ihn entgeistert an. Seine Augen glänzten. Die Pissrinne? Was sollten wir denn da verpassen? Die Pissrinne im Holunder war doch wohl eindeutig ein trüber Ort, an dem Männer schweigend ihren Geschäften nachgingen. Maximal, daß sie dort heimlich die Länge ihrer Schwänze miteinander verglichen; ein Vorgang, den frau – MEIN HAUS MEIN AUTO MEIN BOOT – überall und ständig beobachten kann. Was war so gut am männlichen Pissoir?

Wie jede weiß, gehen wir, also wir Frauen, unter allen Umständen stets zu zweit aufs Klo. Während wir uns die Nase pudern oder die Lippen nachziehen, sprechen wir über die politische Situation, den Werteverfall in der Gesellschaft, oder wir diskutieren die Monadologie von Leibniz; kurz, wir führen Gespräche voller Eleganz und Tiefsinn, bevor wir uns wieder an einen Tisch mit Männern setzen. Unsere kreatürlichen Vorgänge verrichten wir, jede für sich ganz allein, in der Abgeschiedenheit einer einzelnen Kabine; eine Tatsache, die ich bisher immer zu schätzen wußte.

Nie hatte ich die Männer bisher um ihr Zwangswettpinkeln beneidet. Aber nun, mit einem Satz, spontan dahingesagt, hatte Rainer mein Weltbild ins Wanken gebracht.

Ohne Pissrinne verpasst frau etwas im Leben, soso. Ich rechnete nach.

Legt man die gewöhnliche Biermenge zu Grunde, die der gewöhnliche Mann an einem gewöhnlichen Abend im Holunder in sich hineinschüttet – ca. 20 bis 30 Striche auf dem Deckel – und zählt man das Aufnahmevolumen einer gewöhnlichen Frauenblase – sagen wir: meiner – hinzu, so kommt man auf eine Pinkelfrequenz von 20. Bei 20 bis 30 Bier müßte ich mindestens zwanzigmal aufs Klo. (Allerdings wäre ich vorher am Tresen umgekippt und außerdem, keine einzige Frau wäre so oft mitgekommen). Es gäbe also pro Abend zwanzig Gelegenheiten etwas zu verpassen. Aber was? Was passiert beim männlichen Pinkeln?

Es geht die Sage, daß eine berühmte Kölner Rockband sich dereinst zwanglos beim Pinkeln gefunden haben soll. „Major“ Heuser soll Wolfgang Niedecken in einem Kölner Örtchen um einen Job angehauen haben, und zack, BAP war geboren. (Das muß frau sich mal umgekehrt vorstellen: Angenommen, es gäbe keine Trennwände bei unseren Kabinen, und zwei von uns säßen mit heruntergelassener Hose auf dem Pott, kann sich da irgendeine Frau vorstellen, daß sie in dieser Situation um eine Festanstellung bittet? Wohl kaum. Absolut undenkbar.)

Aber auf dem Männerpissoir wurden offensichtlich wichtige Geschäfte gemacht. Womöglich war diese Vorrichtung mit den offenen Becken, die ich bislang immer bestenfalls leicht ekelhaft gefunden hatte, sogar bewußt auf Kennenlernen in intimer Situation angelegt, um Geschäftsabschlüsse zu fördern, während wir uns mit meistens nur einer Kabine begnügen mußten, in der wir einsam all unsere Verrichtungen allein tätigten. Handelte es sich hier mal wieder, wie immer, um einen perfiden Trick des Patriarchats, der Frauen von der Macht ausschließen sollte?

Oder war es vielleicht so, daß Männer in der Abgeschiedenheit des stillen Ortes, ganz unter sich, ihr wahres Gesicht zeigten, den eigentlichen Kern ihres Wesens…?

*

Ich beschloss, der Sache sofort auf den Grund zu gehen. Ich würde mir, als Ausgangspunkt meiner Recherchen, den Ort des Geschehens genauer ansehen. Ich würde so tun, als müsste ich auf Toilette und hätte mich in der Tür geirrt. Also, auf zur Tat. Der Geruch ließ mich zwar schon von weitem zurückprallen, aber die Liebe zur Wahrheit war stärker. Jedoch, am Urinal stand nur ein einzelner Mann allein, der dort die ersten zehn Biere entäußerte. Mist. Der Mann war Stammgast so wie ich.  Ich wurde rot und machte die Tür wieder zu. Dem würde ich nie weismachen können, daß ich mich geirrt hätte. Er würde jetzt den ganzen Abend lang dreckige Witze über mich reißen, außer ich würde so tun, als wäre ich schon total betrunken, was mich aber ebenfalls in ein schlechtes Licht bringen würde. Ich verließ fluchtartig das Lokal.

Zu Hause dachte ich weiter über alles nach. Was war gut an der Pissrinne? Männer waren beim Pinkeln unter sich, das stand mal fest. Was noch? Sie öffneten ihre Reißverschlüsse, holten ihre Johnnys raus, und überließen sich der Entspannung… vielleicht redeten sie in einem gemütlich dahinplätschernden Gespräch über sich selbst, über ihre Gefühle, was ihnen ja sonst bekanntlich schwerfiel… Was, wenn sich mit dem Strom des Urins auch jedesmal ein Strom des Bewußtseins ergoß in das Becken, ein Ausfluß von tiefen Gedanken und Gefühlen, unwiederbringlich hinweggespült von etwa zwanzig Litern reinen Quellwassers?

Aber was für Gefühle und Gedanken konnten das sein? Ich meine, wenn doch Männer mit Frauen im Holunder zusammenstanden, dann sollte man doch davon ausgehen, daß die Männer ihre Gedanken zusammenhielten, um die Frauen zu beeindrucken. Sie würden doch nicht ihre geistreichsten Thesen den Bach hinunterspülen, oder diese gar in einem urologischen Anfall von Geschwätzigkeit einem ihrer vielen Konkurrenten anvertrauen, die ohnehin schon wie die Haie um die wenigen Frauen an der Theke umherstrichen, und diejenigen ihrer Geschlechtsgenossen, die es geschafft hatten, eine der Schönheiten in ein Gespräch zu verwickeln, neidisch beäugten? Oder doch?

Vielleicht aber, wer weiß, vielleicht ging es ja auch spielerisch zu am Becken. Vielleicht veranstalteten sie jedesmal einen Wettstreit nach dem Motto: Wer-kann-von-am-weitesten-weg-noch-treffen. Ein nicht abwegiger Gedanke, bedenkt man die vielen Frauen, die ihren Mann aus guten Gründen an das Urinieren im Sitzen gewöhnen wollen.

Nun ja. Ich beschloß mit der Fortführung meiner Recherchen auf Karneval zu warten. Karneval kann frau in jeder Kneipe aufs Männerklo. Aber nein. Ich verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Schließlich ging es hier nicht um irgendein Klo, sondern um das des weißen Holunders. Rainer hatte von genau diesem Klo behauptet, daß es etwas ganz Besonderes sei, ein Satz, der Penisneid in mir ausgelöst hatte. Aber genau dieses Klo würde ich auch zu Karneval nicht betreten können. Denn es würde komisch aussehen. Der Holunder bot seinen weiblichen Gästen zum Pinkeln nicht nur eine, sondern zwei Kabinen, und auf diesen war es zu Karneval nie so voll wie anderswo. Anderswo bildeten sich zu Karneval immer lange Schlangen vor dem Frauenklo, im Holunder nicht. Ein Umstand, den ich bis jetzt immer löblich vermerkt hatte, der aber jetzt der Wissenschaft im Weg war. Außerdem, wenn frau schon mal anderswo, sagen wir: Rosenmontag beim Zug, genötigt ist, das Männerpissoir zu betreten, was passiert denn dann? Alle Köpfe schwingen zur Tür, die Gespräche verstummen und betretene Gesichter nesteln an ihren Reißverschlüssen, weiter nichts. Darum konnte es doch hier nicht gehen. Andererseits … wenn ich so gegen 10 Uhr abends am Veilchendienstag unauffällig die Pissrinne im Holunder betreten würde, würde das wirklich jemandem auffallen? Alle würden hackedicht neben mir hin und her schwanken, nur bestrebt, nicht daneben zu treffen. Aber trotzdem … nein … Das Risiko war zu groß. Hm.

*

Nun, wer hatte denn dieses ganze Fragen und Suchen, diesen Forscherdrang in mir ausgelöst? Wer hatte denn behauptet, dass männliches Pinkeln im Holunder etwas ganz Besonderes sei? Rainer natürlich, und genau den würde ich nun in den Dienst eines soziologischen Experiments stellen.

„Also Rainer“, erklärte ich ihm eines Abends ganz genau, „du gehst jetzt mal austreten, und nachher erzählst du mir in allen Einzelheiten, wie’s da aussieht, und worüber ihr gesprochen habt. Alles klar?“ Rainer nickte und dampfte ab.

Fünf Minuten später kam er wieder.

„Und?“, fragte ich erwartungsvoll, „wie war’s? Worüber habt ihr gesprochen? Wie hast du dich gefühlt?“

„Oooch“, ließ sich Rainer Zeit mit der Antwort, „eigentlich haben wir über nichts Besonderes gesprochen…du weißt schon…über dies und das halt… was man halt so redet. Ich hab mich wie immer gefühlt…alles war wie immer“.

Doch seine Augen glänzten. Ich grunzte frustriert. Ich bohrte nach, drang in ihn, insistierte: vergebens. Rainer hatte jenes steinerne Gesicht von Winnetou am Marterpfahl aufgesetzt; es ist jenes Gesicht, das gemütliche Gespräche über das Leben, die Liebe, vergangene Fehler und die allgemeine Zukunft eines an sich glücklichen Paares in ätzende Beziehungsdebatten verwandelt.

Mist. Damit war alles klar. Weiter würde ich nicht kommen. Was Männer an der Pissrinne trieben, würde mir für immer ein Geheimnis bleiben. Dies war das Ende der Studie.

Nun ja. Wahrscheinlich war an der ganzen Sache sowieso nichts Besonderes dran … ich fasste das Ergebnis meiner bisherigen Überlegungen zusammen:

Vieles erklärte sich von selbst, allein aus der unterschiedlichen Anatomie. Männer waren eben anders als Frauen. Männer machtens im Stehen, Frauen im Sitzen, das war alles.

Männer stehen breitbeinig da, stets bereit zur Flucht, und beobachten genau, wieviel Pipi sie gemacht haben, welche Farbe es hat, und welchen Weg es nimmt. Sie messen, vergleichen und klassifizieren. Das ist die Einstellung, mit der man Kriege beginnt und Imperien aufbaut… alles in allem eine antiquierte, vorsintflutliche Lebenshaltung.

Wir hingegen, Schwestern, wir sitzen gemütlich auf der schön mit Klopapier gepolsterten Brille, lassen unser Pipi friedlich unter uns weggehen und hängen in Ruhe unseren Gedanken nach. Wir denken nicht mehr an das, was wir gemacht haben, es interessiert uns nicht mehr. Wir wissen genau, daß wir bereits in der nächsten Viertelstunde wieder auf Toilette werden müssen. Kölsch wird in unserem Leib umgewandelt zu Pisse, in jeder Sekunde, die wir im Holunder stehen, das ist nun mal der Kreislauf des Lebens … Wir wissen, dass es sich in uns erneut vollziehen wird, das ewige Geheimnis von Werden und Vergehen, von Kölsch zu Pisse zu Klärwerk zu Wasser zu Kölsch für 1,50 das Stück …

Wir verschwenden keinen Gedanken daran. Man könnte auch sagen, daß wir uns in der Kunst des Loslassens üben, ganz entspannt im Hier und Jetzt sitzend, mit heruntergelassener Hose oder hochgeschobenem Rock, sehr allein, in Ruhe.

Wir, meine Damen, wir sind pinkelmäßig bereit zum Aufbruch in das nächste Jahrtausend. Sie nicht. Das ist der ganze Unterschied.

Ein Beitrag von Cornelia Schmitz 

Bild (Ausschnitt) von congerdesign auf Pixabay


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