Marie-Louise Buschheuer, eine Beschäftigte des AlexOffice, bringt mit diesem Artikel mehr Licht ins Dunkle des oft unverstandenen selbstverletzenden Verhaltens von Borderlinern. Der Beitrag entstand auf Grundlage ihrer persönlichen Erfahrungen – auch zu finden in Marie-Louises eigenem Blog sternenruferin.
Da es sich um sensible Inhalte handelt, setzen wir an dieser Stelle eine ***Triggerwarnung***


 

Selbstverletzendes Verhalten der Borderliner

„Borderliner – das sind doch die, die sich selber verletzen.“ – Hand hoch, wer es so oder so ähnlich gehört oder gesagt hat. Wenn ich jetzt wirklich erhobene Hände sehen könnte, wären es Einige. Denn Borderline wird immer noch gerne auf die Selbstverletzung reduziert. Selbstverletzendes Verhalten gilt als das markanteste Merkmal dieser Erkrankung, und doch ist es das, was Borderliner am wenigsten ausmacht.

Seine Popularität verdankt es der Tatsache, dass es lange Zeit einen Trend gab, eben dieses Verhalten in den Mittelpunkt zu stellen. Durch Presse aber auch durch die Betroffenen selber.

Pressewürdiges Verhalten

In denkwürdiger Erinnerung ist mir ein Twitter und Tumblr Trend geblieben, bei dem Fotos der Verletzungen gepostet wurden. Die Kommentarsektion war überflutet von Menschen, die entweder applaudierten oder die Person fertig machten, weil sie nicht tief genug geschnitten hatten oder das Muster nicht hübsch genug war.

Dass die Presse auf genau das aufmerksam wurde, ist verständlich. Und so wurde selbstverletzendes Verhalten zu einem Trend, zu etwas um endlich dazu zu gehören. Borderliner wurden in der Presse genau darauf reduziert und da die Masse eben jener Twitter und Tumblr Poster Jugendliche waren, wurde es zu einer Krankheit der Jugendlichen gemacht, zu einem Hilferuf und zu etwas, aus dem man „rauswächst“.

Dass Borderline wesentlich mehr ist, sollte demjenigen, der meinem Blog folgt mittlerweile deutlich sein. Und dennoch, selbstverletzendes Verhalten gehört in vielen Fällen dazu. Auch bei mir! Und um selber einmal mit dem „Müll“ aufzuräumen, dieser Artikel. Sicherlich, es sind viele Artikel dazu geschrieben worden, von Profis, von Betroffenen. Dennoch, einer mehr schadet nicht.

Roter Faden?

Und jetzt habe ich den Faden verloren. Fang ich also einfach von vorne an:

Selbstverletzendes Verhalten kann Teil der Borderline-Erkrankung sein. Und damit ist nicht nur das medien-wirksame „Ritzen“ des Körpers gemeint. Gemeint ist generell Verhalten, welches den Körper kurz- oder langfristig schadet. Natürlich gehört das „Ritzen“ dazu, aber auch ebenso kann das Nagelhaut-Abkauen sein, zu heißes Duschen, die Haut aufkratzen, Haare ausreißen, Zigaretten auf der Haut ausdrücken, in kochendes Wasser greifen… Diese Liste ist unendlich, merkt jeder.

Die Frage ist doch: warum? Warum verletzt sich ein Mensch selber? Manchmal so schwer, dass er in die Notaufnahme muss. So oft, dass die Narben sich überlagern.

Eine ultimative Antwort gibt es nicht. Wer darauf jetzt gehofft hat, den muss ich enttäuschen.

Aber es gibt Gründe, und ein paar davon möchte ich hier vorstellen. Ein paar, die auch auf mich zutreffen, die ich selber erlebt habe, die dazu geführt haben, dass ich die Haut meines Körpers aufgeschnitten habe.

Schmerz

Es tut weh, in der Seele, die Gefühle sind nicht zu benennen, sie schmerzen. Ein allumfassender Schmerz ergreift einen und man ist unfähig ihn auszumachen, denn seelischer Schmerz ist etwas, was ungreifbar ist. Also führt man sich sichtbaren Schmerz zu.

Ah, jetzt kann ich es sehen, da sitzt der Schmerz, da blutet es, DA ist der Grund warum es mir so schlecht geht.

Fürsorge

Oft geht die Fürsorge mit dem Schmerz zusammen einher, aber sie kann auch für sich alleine stehen. Denn wenn man verletzt ist, dann verarztet man sich, man kümmert sich darum, dass die Wunde sich nicht entzündet. Desinfektionsmittel, Verbandsmaterial oder Pflaster – man kümmert sich um sich selber.

Selbstfürsorge – anders ist es eigentlich gar nicht möglich. Denn warum sollte man sich selber pflegen, wenn man doch gar nicht verletzt ist? Die blutende Wunde, die Brandblasen – sie geben einem einen Grund, einfach mal liebevoll zu sich selber zu sein.

Druckabbau

In meinem Artikel zur Anspannung habe ich von der Anspannungskurve berichtet. Und wenn man ganz oben ist und einfach mal Dampf ablassen muss, dann kann Schmerz ein verdammt gutes Ventil sein. Man hat einen Grund zu heulen, den Schmerz zu fühlen, einfach alles raus zu lassen, was es gerade schwer macht.

Sucht

Selbstverletzendes Verhalten kann eine Sucht sein. Das Blut fließen zu sehen, dabei zu zu sehen, wie die Haut sich öffnet, verbrennt oder ähnliches, kann ein unheimlich befriedigendes Bild sein.

Mittlerweile ist wissenschaftlich von irgendwem nachgewiesen worden, dass Selbstverletzendes Verhalten Glückshormone freisetzt. Und eigentlich sollte das absurd sein, aber es erklärt vieles.

Aus dem Nähkästchen

Die von mir genannten Aspekte sind jene, die ich selber erlebt habe – und gelegentlich noch selber erlebe. Denn nur weil ich aktiv kein selbstverletzendes Verhalten auslebe, heißt das nicht, dass ich nicht darüber nachdenke.

Es gibt Tage, da vermisse ich diese Art des Ventils. Aber SVV (Selbstverletzendes Verhalten) bringt immer einen ganzen Schwung an negativen Emotionen und Gefühlen mit sich – danach. Scham, Schuld, Angst – und diese Emotionen sind schwer auszuhalten. Es kann schneller in eine Abwärtsspirale gehen, als man selber möchte.

Sicherlich, ich dusche noch zu heiß, und jeder Psychiater, jeder Gutachter, jeder Therapeut wird das als selbstverletzendes Verhalten bezeichnen. Und ja, wenn ich nach der Dusche aussehe wie ein frisch gekochter Krebs, möchte ich ihnen Recht geben.

Doch – und ich denke, viele werden mir da zustimmen – es ist gesünder als vieles andere.

Tage an denen es schlecht läuft und man nur durch eine Art von Schmerz fühlen kann, dass man noch empfindet, erfordern halt Maßnahmen.

Borderline bedeutet nicht, dass man sich selbst verletzt.

Sich selbst zu verletzen ist für viele die einzige Möglichkeit, sich selber wahr zu nehmen, sich liebevoll um sich selber zu kümmern. Auch wenn es dysfunktional ist, es kann ein Rettungsanker sein.


Marie-Louise Buschheuer
sternenruferin

Anm. d. Red.: Wenn du betroffen bist und Unterstützung suchst, wende dich an professionelle Beratungsstellen. Erste telefonische Beratung erhältst du u. a. hier:

Telefonseelsorge, 24 Stunden erreichbar (und kostenfrei): 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222
Mailseelsorge/Chatberatung über www.telefonseelsorge.de ist auch möglich.

 

Foto (Ausschnitt) von Abdiel Ibarra auf Unsplash 


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