In ihrem Artikel »Skills – mein Werkzeugkoffer für Borderline« stellt uns Marie-Louise Buschheuer (AlexOffice) ihre persönliche Sammlung an gegenständlichen und auch mentalen Hilfsmitteln und Vorgehensweisen vor, die ihr als Borderlinerin das Leben leichter machen und ihr Sicherheit im Alltag geben.

Vielleicht beinhaltet der Werkzeugkoffer ja auch für euch passende Tipps und Anregungen. Und wenn ihr aus eigener Erfahrung noch andere Werkzeuge/Skills kennt, lasst es uns wissen!


 

Skills – mein Werkzeugkoffer für Borderline

 


 

Borderline heißt auch, dass der Betroffene/die Betroffene immer wieder mit Angst oder Anspannungszuständen lebt. So geht es auch mir. In verschiedenen Therapien kamen immer wieder Ideen auf, wie ich diese schlimmen Momente ohne selbstverletzendes Verhalten überstehen kann.

So entstand über die Jahre ein, oftmals mental, ein Werkzeugkoffer, der mir helfen kann und soll, besser im Alltag zurechtzukommen.

Heute möchte ich euch einige dieser Skills vorstellen. Vielleicht ist der ein oder andere dabei, den ihr noch nicht kennt oder der in Vergessenheit geraten ist. Die meisten meiner Skills nehmen keinen Platz in der Tasche weg, denn sie sind mental, aber dennoch unglaublich wirksam.

Bühne frei für meinen Werkzeugkoffer!

Die Skill-Kette

Zuallererst erläutere ich einmal einen Begriff, der in diesem Artikel häufiger auftaucht und der den Ablauf und das Einsetzen von Skills betrifft: die Skill-Kette.

Eine Skill-Kette ist eine Art Ablaufplan. Je nach Stärke der Situation, je nach Tiefe der Angst- oder Dissoziationszustände oder je nachdem, wie stark die Emotionen sind, greife ich auf einen anderen Skill der Liste zu. Dabei steht an oberster Stelle ein extremer äußerlicher Reiz, der durch einen physischen Gegenstand hervorgerufen wird, an unterster Stelle steht eine Entspannungsübung.

Also, je nachdem wie stark der benötigte Skill sein soll, steige ich weiter oben auf der Liste ein und arbeite mich nach unten vor. Dabei muss nicht jeder Skill angewendet werden, aber ihr könnt euch in etwa vorstellen, wie das funktioniert: Reizen – ablenken – beruhigen, so der Gedanke dahinter.

Skills-Igelball

Der Skills-Igelball ist einer meiner Hardcore-Skills, denn er ist physisch vorhanden, ich kann den Gegenstand in die Hand nehmen und vor allem, er tut weh! Zumindest wenn ich ihn wirklich fest in die Hand nehme.

Und genau darum geht es. Er soll weh tun, er soll einen Reiz auslösen, der alle anderen Reize in den Schatten stellt, der Igelball soll mich bei schlimmen Panikattacken, Dissoziationen oder ähnlich schlimmen Momenten mit einem Reiz aus der Spirale hinausbefördern. Erst dann kann ich zu anderen Skills greifen.

In der Klinik war der Skills-Igelball noch ziemlich weit unten in meiner Skill-Kette, doch über die Jahre hat er alle anderen „harten“ Skills wie Ammoniak, Hundeklicker oder Ähnliches abgelöst. Denn ich reagiere durch Übung mittlerweile verdammt gut schon auf leichte Gegenreize.

Aber manchmal, da nehme ich ihn auch einfach in die Hand und rolle leicht, denn das Gefühl der spitzen Stacheln ist einfach beruhigend.

Fidget-Cube

Mein zweiter physischer Skill. Er ist nicht ganz so stark wie der Igelball, aber in gewissen Situationen ist er unglaublich nützlich. Er ist klein und passt eigentlich prima in die Hosen- oder Jackentasche und nur selten nehme ich ihn auch raus. Ich kann damit prima in der Tasche spielen. Auf fünf Seiten des Würfels sind verschiedene Knöpfe, Schalter, Rädchen und ein Joystick angebracht.

Ist die Anspannung hoch oder muss ich in einer Stresssituation, wie eine volle Bahn, meine Hände beschäftigen, mich auf etwas anderes konzentrieren, spiele ich mit ihm rum. Es beruhigt mich und macht so die Situation einfacher, besser auszuhalten.

Ohrstöpsel/Noise-Cancelling-Kopfhörer

Wer mich auf der Straße sieht, sieht mich meistens mit Kopfhörern. Die Geräusche der Großstadt, die vielen Unterhaltungen, Autos, Kindergeschrei – das alles macht es mir sehr schwer. Meine Anspannung steigt schnell an.

Die Kopfhörer spielen dann Musik oder sind einfach nur eingeschaltet, damit sie die Geräusche der Umgebung dämpfen. Befinde ich mich in Situationen, in denen ich die Kopfhörer nicht tragen kann, so kann ich auf meine Ohrstöpsel zurückgreifen.

Hier habe ich allerdings sogenannte Konzert-Plugs. Sie dämpfen lediglich ab, verschließen also nicht vollständig mein Gehör. Ich kann zwischen verschiedenen Dezibel-Filtern wählen. So bekomme ich zwar alles mit, aber die Geräusche sind leiser und ich kann mich besser konzentrieren.

Fibonacci-Folge

Ab jetzt kommen die geistigen Skills. Eine meiner Lieblingsaufgaben an mein Gehirn ist es, die Fibonacci-Folge aufzusagen oder zu berechnen. Die Fibonacci-Folge ist ein mathematisches Mittel unter anderem zur Wachstumsberechnung. Wer mehr über sie wissen will und über den Mann, der sie entdeckt bzw. entwickelt hat, sollte Wikipedia unbedingt einen Besuch abstatten.

Nun, die Fibonacci-Folge funktioniert ganz einfach: Sie beginnt mit der Zahl 1 und wird mit der Summe der beiden vorherigen Zahlen weitergeführt.

Also: 1 1 2 3 5 8 13 usw.

Da ich mit Mathe immer schon ein Problem hatte, ist diese Aufgabe für mein Gehirn ziemlich herausfordernd und verlangt alle verfügbaren Ressourcen. Ziemlich klar, dass ich dadurch schnell von negativen Emotionen und Gedanken abgelenkt bin.

Zahlen-Leiter

Ich habe keine Ahnung, ob es dafür noch einen anderen Namen gibt. Aber das Prinzip ist ganz einfach: Ich zähle von 1 bis zu einer Zahl, die ich mir selber setze in Schritten, die ich vorher bestimme. Und danach wieder zurück.

Ein konkretes Beispiel wäre hier zum Beispiel: Zähle von 1 bis 100 in Dreierschritten. Also: 1 4 7 10 13 usw. Auch hier halte ich mein Gehirn wieder einmal beschäftigt, damit das Schlechte keinen Platz hat. Ihr merkt sicherlich eine Richtung in der Skill-Kette.

Fingerhäkeln/Zusammendrücken der Finger

Ich habe keine Ahnung, wie ich das sonst nennen soll, denn eigentlich ist es nur ein Spiel mit den eigenen Fingern. Ich drücke meine Fingerspitzen zusammen, wandere dabei von einem Finger zum Anderen. Also Daumen auf Zeigefinger, auf Mittelfinger usw. Oder ich lege den Zeigefinger der einen Hand auf den Daumen der anderen und „wandere“ so mit den Fingern. Wie Häkeln ohne Garn, oder Stricken.

Dieses Drücken und Bewegen der Finger hat mehrere Funktionen: Zum einen nehme ich einen äußeren Reiz wahr und spüre meinen Körper – was in manchen Situationen wirklich sinnvoll ist. Und zum Anderen beschäftige ich meine Finger, ähnlich wie bei dem Fidget-Cube.

Ein kurzer Stressabbau oder eine Regulation ist damit für mich wunderbar machbar.

Der innere Garten

Nach den aktiven Skills, die die Anspannung oder den Stress regulieren sollen, kommen wir nun zur Entspannung. Auch da gibt es für mich mehrere, die alle in meinem Kopf spielen.

Als erstes gibt es meinen inneren Garten. Bereits in meiner allerersten Therapie, die nur auf meine Depressionen abzielte, entwickelte ich diesen mentalen Rückzugsort.

Über die Jahre hat er sich verändert, ist gewachsen und ist gepflegt worden. In diesem inneren Garten kann mir nichts passieren, er ist ein Ort, der vollständig von der äußeren Welt, von allen Sorgen und Problemen abgeschottet ist.

Dieser Garten verändert sich auch, denn wenn ich etwas benötige, kann ich es entstehen lassen. Ebenso das Wetter oder die dort lebenden Tiere entsprechen immer meinen Bedürfnissen. Lediglich die Grundlage, die Bäume, der Fluss, die alte Kate, sie sind immer gleich.

Auch der Panther, der das Grundstück bewacht, ist immer zugegen.

Hier kann ich mich ausruhen, lesen, schaukeln, die Füße in den Bach stecken – und das alles, während ich in der Bahn sitze, im Büro hocke oder abends im Bett liege.

Mit genügend Übung und wenn ich mich wirklich darauf einlassen kann, spüre ich es durchaus auch. Den Wind, die Düfte, alles um mich. Es ist mein Garten, hier kann mir nichts passieren.

Tagträumen

Sich selber zum Superheld machen, Kriminalfälle lösen oder in eine Fantasy-Welt abtauchen – wer kennt das nicht? Wenn mir alles zu viel wird und ich die Anspannung entschärfen will, dann tauche ich auch gerne mal für ein paar Minuten in einen Tagtraum ab.

Dann erlebe ich Abenteuer, treffe Sherlock Holmes oder Jack Sparrow, gehe mit den Kommissaren vom Tatort auf Täterjagd oder kämpfe gegen Lord Voldemort.

Ich erlaube es mir selber, einfach einmal abzuschweifen, der Realität für einen Moment zu entfliehen, in eine Welt, in der ich alles im Griff habe, in der ich Besonders bin.

Das macht es einfacher.

Schlussendlich: mein Schlüssel und mein Handy

Dinge, die ich wie tausend, Millionen andere tagtäglich mit mir trage. Ich habe sie zu persönlichen Skills entwickelt, zu Dingen, die mich im Alltag unterstützen und mir Halt geben.

Der Schlüssel ist wahrlich ein Schlüssel, zu meinem sicheren Ort, zu meinem Ruhepol, zu der Wohnung, in der mir nichts passieren kann, in der ich ruhen kann und nichts Schlimmes passiert. Ist der Alltag auch noch so anstrengend, ist die Anspannung auch noch so hoch, bei mir zu Hause bin ich sicher. Zusätzlich habe ich noch den Schlüssel zu meinem Elternhaus an dem Bund, ein weiterer Ort, von dem ich weiß, egal was passiert, hier wirst du aufgenommen, hier kannst du zur Ruhe kommen.

Mein Handy hat eine ähnliche Funktion: Ich kann im Zweifelsfall immer jene Menschen erreichen, die mich beruhigen können, die für mich da sind, die mich „runter bringen“ können. Und ich habe massig Spiele auf dem Handy, die mein Gehirn beschäftigen können.

Das Täschchen

Im normalen Alltag habe ich meistens eine große Handtasche oder einen Rucksack dabei. Darin nach dem Igelball oder dem Fidget-Cube zu suchen, wäre eine ziemliche Herausforderung.

Meine Mutter schenkte mir vor einiger Zeit ihr altes Make-Up-Täschchen. Pink-Rot mit Blumen von Oilily. Zwar nicht mein Stil, aber ich liebe es. Denn es ist extrem praktisch und hat die richtige Größe.

Neben Schmerztabletten – die man ja immer wieder mal braucht – und meinem Brillenputztuch haben da auch mittlerweile meine physischen Skills ihren Platz gefunden. Und durch die Farbe finde ich es ziemlich schnell in meiner Tasche.

 

All diese Dinge geben mir im Alltag Sicherheit und nach einer langen Zeit, in denen ich wenige der physischen Skills eingesetzt habe, habe ich für mich beschlossen, sie einfach wieder dabei zu haben. Wenn ich sie nicht brauche, ist das wunderbar, aber alleine das Gefühl, sie zu haben, gibt mir eine immense Portion Sicherheit.

Wie schaut es bei dir aus? Hast du spezielle Skills, die dich im Alltag unterstützen?


Marie-Louise Buschheuer
sternenruferin

Titelfoto (Ausschnitt) von Sorrawis Chongcharoen auf Unsplash


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