Jährlich kehren weniger als 1% der Beschäftigten von Behindertenwerkstätten zurück auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Es liegt nicht daran, dass die Werkstätten Sackgassen oder Endstationen sind. Oftmals liegt es einfach an der Erkrankung und an den Anforderungen oder den Bedingungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. In ihrem Beitrag „Weniger als Ein Prozent der Werkstattbeschäftigten“ folgt Marie-Louise Buschheuer, unsere Kollegin aus dem AlexOffice, diesen Spuren anhand ihrer eigenen Geschichte und erklärt, warum sie nicht bestehen kann. Diejenigen, deren Situation ähnlich aussieht, finden vielleicht in Marie-Louises persönlichen Erklärungen mögliche Antworten für sich selbst.


 

Weniger als Ein Prozent der Werkstattbeschäftigten

In einem Gespräch mit unserer Öffentlichkeitsbeauftragten habe ich heute mal wieder aufgeschnappt, dass jährlich weniger als ein Prozent der Beschäftigten in einer Behindertenwerkstatt zurück auf den Arbeitsmarkt kehren.

Für viele mag diese Zahl erschreckend niedrig sein, mich schockt sie überhaupt nicht mehr. Eine Behindertenwerkstatt verbucht nicht den Titel Endstation oder Sackgasse für sich, ganz im Gegenteil, sie kann und soll eigentlich ein Schritt auf den Weg in eigenständige Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sein.

Weniger als ein Prozent von 320.000

Um einen Überblick zu bekommen, von wie vielen Menschen ich eigentlich rede, habe ich wieder einmal Rehadat bemüht:

Laut einem Jahresbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen, der im Oktober 2021 veröffentlicht wurde, arbeiten bundesweit in rund 700 Werkstätten 320.000 Beschäftigte.

Um die Zahlen zu vertiefen noch eine Übersicht über die Zuordnung der Behinderungen. 75% davon sind geistig behindert, 21% sind psychisch behindert, 4% körperlich beeinträchtigt. Und mehr als 30% sind älter als 50 Jahre.

Das sind die Zahlen. Die reinen Fakten. Von diesen 320.000 Menschen gehen weniger als 1% jährlich in eine Beschäftigung auf den ersten Arbeitsmarkt über.

Warum ist das so?

Ich wiederhole mich hier eigentlich recht häufig, merkt der regelmäßige Leser selber, aber wieder einmal heißt das Zauberwort: Inklusion.

Viel mehr noch, in diesem Fall heißt es nicht nur Inklusion sondern auch Arbeitsbedingungen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Denn für viele sind die Bedingungen, die in allgemeinen Betrieben herrschen einfach nicht handelbar mit der eigenen Erkrankung.

Beispiel: Ich!

Dieser Blog erhebt keinen Anspruch auf vollständige Richtigkeit noch spreche ich für alle. Daher bringe ich als Beispiel mich persönlich an. Meine Geschichte, mein Erleben. Ich kann es immer nur wieder betonen.

Wer mich im Alltag oder auf der Arbeit erlebt, ist geneigt zu fragen, warum ich eigentlich in einer Behindertenwerkstatt arbeite. Ich wirke auf den ersten Blick kompetent und ausgeglichen, bin engagiert und arbeite zuverlässig und genau. Ich bin pünktlich, organisiert und weiß, was ich in meinem Beruf zu tun habe. Alleine das zu schreiben ist jedoch eine Überwindung für mich – denn ich glaube es nicht unbedingt jeden Tag.

Und da liegt das erste Problem: ich bin verdammt unsicher. Kommt es zu einer Situation, in der ich unsicher bin, dann brauche ich jemanden, der mich bestärkt, der mir sagt, das ist richtig, was du tust. Jemanden, der über meine Arbeit drüber schaut und sagt, japp, ist richtig so, machen Sie weiter Frau B.

Gut, manch einer wird jetzt sagen „aber das ist doch ganz normal“. Für einige mag es so sein, aber bei mir kann eine negative Reaktion auf meine Unsicherheit einem Desaster gleich kommen. Ich werde dann noch unsicherer, werde nervös und hektisch. Und dann gerate ich in Stress. Dieser Stress sorgt dann dafür, dass ich Fehler mache, keine gravierenden, aber sie sind genug, um diese Spirale immer weiter führen zu können.

Weitere Faktoren

Wo wir gerade vom Stress sprechen, auch der ist für mich oft genug ein K.O. Kriterium. Wenn es um mich herum hektisch wird, werde ich unruhig, kann mich nicht konzentrieren und bin nicht mehr fähig, meine Arbeit anständig und genau zu erledigen. Die oben genannte Spirale geht los.

Ich will dann alles so schnell wie möglich erledigt bekommen und das Ende vom Lied ist: ich schaffe gar nichts, weil ich hektisch werde. Und Fehler mache. Und unsicher werde.

Ein weiterer Aspekt, den ich im bisherigen Berufsleben erlebt habe: Chefs oder Abteilungsleiter, die cholerisch reagieren oder unausgeglichen sind.

Wie der Stress als ein Faktor ist auch der Mensch ein Faktor, der mich aus der Ruhe bringen kann. Ich hatte zweimal in meinem Leben cholerische Abteilungsleiter, die ihren Unmut lautstark kund taten. Der Eine fand es auch noch lustig, seine Mitarbeiter anzubrüllen, als Arschlöcher zu bezeichnen und war der Meinung, so müsste man mit „Untergebenen“ umgehen. Es hat mich auf lange Sicht wirklich fertig gemacht. Die Andere hat zwar nicht mit Schimpfwörtern um sich geschmissen, aber auch sie war sehr bestimmend, auch sie wurde laut, wenn etwas nicht genauso lief, wie sie es wollte, oder wenn man sich ihrer Meinung widersetzte.

Seit dieser Zeit habe ich ein ernsthaftes Problem mit Menschen, die laut werden. Brüllt mich jemand an, setzt mein Gehirn vollständig aus und ich stehe wie ein Reh im Scheinwerferlicht da. Ich bekomme regelrecht Panik und bin zu keiner logischen Handlung mehr fähig.

Danke an dieser Stelle übrigens dafür an jene Menschen.

Schlussendlich ist noch der Faktor Arbeitszeit übrig: ich kann und möchte nicht mehr 40 Stunden in der Woche arbeiten. Derzeit beträgt meine Wochenarbeitszeit 30 Stunden und ich bin sehr glücklich damit, denn ich bekomme so mein Leben auf die Reihe, habe genug Zeit, Beruf, Privat und Erkrankung in einem gesunden Gleichgewicht zu halten. Meistens.

Krankheitszeiten

Und das Wort Meistens führt uns zu einem weiteren Problem: Menschen mit Vorerkrankungen fallen immer wieder aus. Aus verschiedenen Gründen. Immer wieder kommt es auch bei mir dazu, dass ich einfach mal „nicht kann“. Meine Psyche kickt so hart, dass ich mich auf nichts konzentrieren kann, dass ich kaum aus dem Bett komme oder dass ich in der Nacht so schlecht geschlafen habe, dass ich überhaupt nicht arbeitsfähig bin.

Ich kann dann in der Werkstatt anrufen und sagen, hey, ich bin krank, heute geht gar nicht, wir sehen uns Morgen.

Thema durch.

Bei den wenigsten Firmen auf dem ersten Arbeitsmarkt wäre dies möglich. Man schleppt sich also hin, obwohl es einem schlecht geht und dann geht es einem noch schlechter, weil man nichts auf die Reihe bekommt. Jedenfalls geht es mir dann so.

Die Summe

Und damit ist das Bild der kompetenten Mitarbeiterin ein wenig dahin. Ich bin nicht perfekt, und ich will es auch nicht sein, davon mal ganz abgesehen. Und mit diesen ganzen Punkten, von denen ich weiß, die ich jedoch nicht so einfach mal eben abschalten oder umgehen kann, weil sie ein Teil von mir sind, ist es schwierig für mich, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln.

An meinem Beispiel kann man sehen, wenn man es möchte und sich darauf einlässt, warum so wenige Menschen aus den Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt wechseln. Inklusion bedeutet nämlich nicht nur, dass die Räumlichkeiten rollstuhlgerecht sind oder besondere Hardware zur Verfügung gestellt wird. Inklusion bedeutet auch, zu akzeptieren, wenn einer meiner Mitarbeiter nicht stressresistent ist, mehr Spielraum braucht und vielleicht sanfter angefasst werden muss.

Rücksicht nehmen und gemeinsam nach Lösungen schauen, einen Arbeitsplatz schaffen, der besonderen Bedürfnissen angemessen ist – auch das ist Inklusion. Wird aber gerne vergessen.

Persönliches Fazit

Dass so wenige Menschen aus Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt gehen hat definitiv nichts damit zu tun, dass die Werkstätten uns „festhalten“. Ganz im Gegenteil. Ich erlebe es in meiner Werkstatt immer wieder, dass aktiv versucht wird, ein völlig normales Arbeitsverhältnis anzustreben.

Der Knackpunkt ist einfach, dass viele sich aufgrund negativer Erfahrungen nicht mehr trauen. Unsere Gesellschaft ist zu einer absoluten Leistungsgesellschaft geworden, schaffst du es nicht, wirst du abgeschrieben. Und solange Firmen nicht bereit sind, Arbeitsplätze zu schaffen, die nicht nur nach außen hin inklusiv sind, sondern in denen die Menschen auch anders behandelt werden, offener und mit mehr Rücksicht als derzeit geläufig ist, solange wird die Zahl so gering bleiben.

Und so wird es wohl bei weniger als Ein Prozent der Beschäftigten bleiben. Die Wenigen, die sich sicher sind, dass sie es schaffen oder die einen Betrieb finden, in denen eine Nische für sie geschaffen wurde.


Marie-Louise Buschheuer
sternenruferin

Foto (Ausschnitt) von Karim MANJRA auf Unsplash


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