In der Reihe »Berühmte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung« stellt das Social Media Team des AlexOffice einige betroffene Menschen vor, die in der Öffentlichkeit stehen bzw. standen. In einzelnen Beiträgen erfahrt ihr, wie die jeweiligen Persönlichkeiten selbst und wie die Gesellschaft mit dieser Art von Erkrankung umgehen.

Lest hier den Artikel zu Thomas Melle.


 

»Berühmte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung« – Thomas Melle

 


 

Der Welt entrückt

Aus dem Leben des bi-polaren Schriftstellers Thomas Melle

„Don’t judge me – you could be ME in another life – in another set of circumstances …”
(aus „Tomorrow We’ll See” von Sting)

 Zur Reihe „Berühmte Persönlichkeiten mit psychischen Störungen“ eignet sich dieser aus Bonn stammende Autor und Übersetzer Thomas Melle wohl nicht zuletzt, weil er mit seiner Erkrankung nicht hinterm Zaun hält, sondern sie unlängst publik gemacht hat, zumal seine bi-polare Störung eng mit seinem literarischen Schaffen verwoben ist. Sein gegenwärtig bekanntester Titel „Die Welt im Rücken“ entfaltet das gesamte Spektrum seiner Krankheit.

Ein Albtraumalltag, von Verfolgungswahn und sozialer Isolation geprägt, wird hier bis ins grausigste Detail so bild- wie lebhaft nachgezeichnet.

Bei Melle, der Philosophie und Literaturwissenschaften in Tübingen, Austin (Texas) und Berlin studierte, lebt mit den Hochs und Tiefs, mit der Willkür seiner Erkrankung, seit bereits über zwei Jahrzehnten. Der Autor wollte nicht sich selbst, sondern die Krankheit in den medialen Fokus rücken, da er das Krankheitsbild bis dato nicht hinreichend gut beschrieben fand.

Melle wirkt eher bescheiden und geerdet. Er scheint heute geläutert und gereift aus seiner ganz persönlichen Hölle hervor gegangen zu sein.

Der Schritt, mit dieser Diagnose, diesem „Schicksal“ so absolut in die Öffentlichkeit zu treten und all die unabdingbar folgenden Stigmatisierungen in Kauf zu nehmen, erfordert viel Courage und war gewiss gut durchdacht, zumal Melle sich und seinen kreativen Output nicht mehr frei von der Krankheit denken kann – welche Leben und Werk entscheidend mitgeprägt hat. Er selbst nennt diesen Schritt, bezogen auf „Die Welt im Rücken“, eine „werkimmanente Notwendigkeit“.

Der Erfolg dieser Selbstentblößung bzw. einer so unverkrampft und vielfarbig wiedergegebenen Introspektive liegt wohl genau darin begründet, dass sie einerseits sprachlich glänzend gearbeitet ist und so erfrischend aufrichtig daherkommt, dass es der Thematik die ureigene Schwere nimmt.

In Melles Worten heißt es in diesem literarisch äußerst wertvollen Werk:

„Das ist das Fatum der Irren: Ihre Unvergleichlichkeit, der Verlust jeglichen Bezugs zum Leben der restlichen Gesellschaft. Der Kranke ist der Freak und als solcher zu meiden, denn er ist ein Symbol des Nichtsinns, und solche Symbole sind gefährlich, nicht zuletzt für das fragile Sinnkonstrukt namens Alltag. Der Kranke ist, genau wie der Terrorist, aus der Ordnung der Gesellschaft gefallen in einen feindlichen Abgrund des Unverständnisses. […] Man weiß ungefähr, was die Depression ist: Eine völlige Fühllosigkeit, bzw. wenn man etwas fühlt, nur negative, schwarze, verzweifelte Gefühle. Die Depression schließt sich bei der bipolaren Störung an eine Manie an. Diese Manie gibt es auch in verschiedenen Ausformungen. In der Ausformung, die ich habe, Bipolar 1 nämlich, ist die Manie sehr heftig, man verliert jegliche Hemmungen, hat wahnhafte Ideen. Und da setzt die Paranoia ein, dann muss man ein Erklärungsgebäude zusammenbauen. Das ist aber völlig falsch konstruiert und dreht sich nur um einen selbst, und man beginnt, die Zeitungen auf sich zu beziehen, zum Beispiel.“

Selbst während einiger Hochphasen seiner Erkrankung war Melle äußerst produktiv. So verfasste er zwischen 2004 und 2020 über zwanzig Dramen sowie einige Erzählungen und Romane. Wenn man liest, wie einnehmend diese Krankheit ist und wie sie Melles Bewusstsein und seine Wahrnehmung durchdrungen hat, muss man von einem großen Phänomen reden, dass trotz jener Umstände zahlreiche brauchbare bis preisgekrönte, so umfangreiche wie komplexe Texte entstanden sind.

Zu seinem „Die Welt im Rücken“ sagt der Wahl-Berliner, das Buch sei erstmal eine Suche nach Gründen im Bewusstsein, dass er dieser Gründe niemals habhaft werden könne. Er versuche aber, die verschiedenen Faktoren, die vielleicht eine Rolle spielen – ob nun Lebensumstände, neuronale Sachen, Vulnerabilität, Persönlichkeitsstruktur, Genetik – jeden Faktor zu erhellen und auf eine gewisse Weise zumindest „anzuanalysieren“ und mit Erzählmomenten aufzufüllen, dass da am Ende so eine Art Clusterbegründung, Clustererklärung aufscheinen möge. Aber man kann nicht sagen: „Der Mensch ist krank geworden, weil die und die Sachen passiert sind.“

All jene, die selbst betroffen sind und nicht die nötige Distanz haben zu dieser intensiven Reise durch finstere Abgründe (wenngleich viele Darstellungen, Momentaufnahmen und irrwitzige Absurditäten des wahrnehmungsverzerrten Alltags im Leben des Autors einer gewissen Ironie nicht entbehren) sollten die Lektüre noch eine Weile auf ihrer Longlist belassen – doch lohnt es nicht, nur für außenstehende Interessenten und Angehörige von Betroffenen sich diesem Text zu stellen.

Gleich zu Beginn seiner so lebendigen wie nicht selten auch quälend detailreichen Selbstbeobachtung schreibt Melle:

Im Englischen gibt es die bekannte Wendung «the elephant in the room». Sie bezeichnet ein offensichtliches Problem, das ignoriert wird. Da steht also ein Elefant im Zimmer, nicht zu übersehen, und dennoch redet keiner über ihn. Vielleicht ist der Elefant peinlich, vielleicht ist seine Präsenz allzu offensichtlich, vielleicht denkt man, der Elefant werde schon wieder gehen, obwohl er die Leute fast gegen die Zimmerwände drückt. Meine Krankheit ist ein solcher Elefant. Das Porzellan (um ihn gleich durch sein zweites Bild stampfen zu lassen), das er zertreten hat, knirscht noch unter den Sohlen. Was rede ich von Porzellan. Ich selbst liege drunter…; […]“

Thomas Melles autobiografischer Roman „Die Welt im Rücken“ erschien im Frühjahr 2018 beim Rowohlt Verlag, ist 352 Seiten stark und weit mehr als bloß eine weitere Bekenntnisschrift.


Eine Beitragsreihe des AlexOffice Social Media Teams

Text: J. T.
Titelbild: Barbara Minnich; unter Verwendung von 2 Bildern:
• Thomas Melle, Frankfurter Buchmesse 2018 von Heike Huslage-Koch
• Zwei Köpfe von Gerd Altmann auf Pixabay 


Hier geht es zu weiteren Artikeln aus der Reihe »Berühmte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung«:

Heinrich Heine mit einem Zitat "Kranke Menschen ..." (AlexOffice)

Einleitung zur Reihe

Britney Spears (Reihe "Berühmte Persönlichkeiten mit psychischen Erkrankungen")

Britney Spears

Friedrich Hölderlin (Headergrafik zur Reihe "Berühmte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung")

Friedrich Hölderlin

Jesy Nelson von Little Mix (Reihe "Berühmte Persönlichkeiten mit psychischen Erkrankungen")

Jesy Nelson (Little Mix)

Robert Walser (Reihe "Berühmte Persönlichkeiten mit psychischen Erkrankungen")

Robert Walser

Irmgard Keun "Das kunstseidenen Mädchen" im Mahnmal zur Bücherverbrennung auf dem Bonner Markt

Irmgard Keun

Thomas Melle, 2018 | Bipolarität

Thomas Melle

Lady Gaga (Reihe "Berühmte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung")

Lady Gaga

Camille Claudel (Reihe "Berühmte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung")

Camille Claudel

Anton Bruckner (Reihe "Berühmte Persönlichkeiten mit psychischer Erkrankung")

Anton Bruckner

Bildcollage Selena Gomez mit dem Zitat "Wenn du gebrochen bist, musst du nicht gebrochen bleiben."

Selena Gomez

 


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